Das Auge und die inverse Lage der Netzhaut


ein Design-Signal?

Über die Deutungsprobleme des Intelligent Design (ID)

M. Neukamm

Evolution ist eine Serie erfolgreicher Kompromisse, auch wenn allzu oft nur irreparabel verbaute Anpassungen zustande kommen. So erfolgt z.B. die Geburt justament durch den einzigen nicht zu erweiternden Knochenring unseres Körpers; die Tatsache, dass die Eizellen einen Weg vom Ovar zum Ostium tubae und Ovidukt zurückzulegen haben, erweist sich angesichts des Risikos von Bauchhöhlenschwangerschaften als potentiell lebensgefährlich, und ein Heer konstitutioneller Erkrankungen ist die Folge: Hämorrhoiden, Krampfadern, chronische Nebenhöhlenvereiterungen, die Aspiration von Fremdkörpern, um nur einige Beispiele zu nennen. Dieser Umstand resultiert aus den in der Individualentwicklung (Ontogenese) vorherrschenden Entwicklungszwängen, die der Evolution Grenzen auferlegen bzw. einen (nachträglichen) Umbau verhindern, selbst wenn die Selektion derartiges fördert.

Auch der Bau des Auges erhärtet diese These: Kurioserweise sind bei den Wirbeltieren die Sehzellen stets dem Licht abgewandt, während die Nervenzellen, die zum Gehirn führen, nach außen gerichtet sind. Die Folge ist ein „blinder Fleck“ auf der Netzhaut, der erhebliche Kompensationsleistungen von Auge und Gehirn verlangt (bei den Weichtieren ist das Problem eleganter gelöst, deren Netzhaut ist evers). Ein evolutionärer Umbau ist deshalb nicht möglich, weil die stammesgeschichtlich getroffenen „Vorentscheidungen“ bezüglich der Ausformung des Gehirns keine Alternativen zulassen, ohne den Funktionszusammenhang zu zerstören.(1) Muss sich aber ein „intelligenter Designer“ an dieses Schema halten?

 

 

Abb.: Aufbau der Netzhaut. Man beachte den inversen Bau des Wirbeltierauges: Die Sehzellen befinden sich auf der dem Licht abgewandten Seite, während die Nerven- bzw. Ganglienzellen dem Licht zugewandt sind.

 

 

Ullrich et al. (2006) meinen, man könne nur „theologisch“ argumentieren, um die inverse Lage der Netzhaut als Argument gegen ID anzuführen. In diesem Fall würden konkrete Aussagen darüber getroffen, wie ein Designer in diesem Punkt hätte handeln müssen (oder sollen), und der ID-Kritiker gelange dann zu dem Schluss, dass die Struktur des Merkmals nicht den postulierten Erwartungen des Designers entspreche. Hier wird aber (leider auch von einigen Befürwortern der Evolution) der Streitpunkt grob vereinfacht: Man muss nicht unbedingt theologisch argumentieren (auch nicht versteckt), um ID anhand der oben genannten Beispiele infragezustellen; dies wird im Rahmen differenzierter wissenschaftstheoretischer Überlegungen in der Regel auch nicht gemacht. Es genügt festzustellen, dass ID die Konserviertheit bestimmter Merkmale (insbesondere solcher, die Folgeerkrankungen oder funktionelle Nachteile nach sich ziehen können) nicht spezifisch erklären kann. Weshalb nicht?

Ullrich et al. stellen zu Recht fest, dass sich der Bau des Auges an bestimmten ontogenetischen Erfordernissen zu orientieren habe. Bei den Wirbeltieren ist die Netzhaut invers, da sich die späteren Rezeptorzellen am Boden eines Hirnventrikels einwärts orientierten. Diese scheinbare Erklärung „proximater Ursachen“ erklärt aber nicht das, was es zu erklären gilt: Warum sind die „ontogenetischen Programme“ so und nicht anders? Wie gezeigt wurde, kann aus evolutionärer Perspektive die Augen-Entwicklung bei den Wirbeltieren nur so ablaufen, weil sie nicht „wegen Umbau vorübergehend geschlossen werden“ können. Die inverse Lage der Netzhaut ist daher ein unausweichlicher Kompromiss. Nimmt man aber an, dass ein Designer das Wirbeltierauge erschuf, bleibt dieser Sachverhalt unverstanden. Denn der postulierte Designer soll ja nach Ansicht der ID-Vertreter prinzipiell in der Lage sein, etwas zu erschaffen, was „ungelenke evolutionäre Prozesse“ angeblich nicht können.

Warum also sollte sich der Designer strikt an die aus der Stammesgeschichte resultierenden Entwicklungszwänge halten, anstatt durch eine intelligente Neukonstruktion der tradierten Induktionsbahnen bei der Entwicklung von Gehirn und Auge die konstruktiven Beschränkungen aus dem Weg zu räumen? Solange über die Wirkprinzipien und Grenzen von ID nichts bekannt ist (überhaupt handelt es sich hier um völlig unbekannte und unerforschliche Faktoren), ist die inverse Lage des Wirbeltierauges also nicht schlüssig durch ID erklärbar. Man könnte selbst in Kenntnis der vorherrschenden Entwicklungszwänge (!) problemlos auch und erst recht das genaue Gegenteil unter Voraussetzung von ID deuten (in diesem Fall könnte man behaupten, es wurden die konstruktiven Zwänge vom Designer in einem beispiellosen Geniestreich überwunden).

Nun weisen Ullrich et al. darauf hin, dass die räumliche Nähe bestimmter Zellschichten zum Außensegment der Fotorezeptoren für die Regeneration und Funktion der Netzhaut „unerlässlich“ sei. Dies klingt, als wüssten die Autoren über alle hypothetisch denkbaren und undenkbaren Konstruktionen genauestens bescheid. Selbst wenn wir einmal annehmen, dass ihre Behauptung stimmt, erklärt sich dadurch aber nicht, warum die Sehzellen dem Licht abgewandt sind. Ullrich et al. betonen ja selbst, „daß in Lebewesen verschiedene Konzepte verwirklicht sein können, um ein Problem, hier die Abfallentsorgung und Energieversorgung von Zellen, zu lösen“. Dadurch stellt sich aber wieder akut die Frage: Warum gerade so und nicht anders?

Letztlich zeigt sich, dass die ID-Anhänger immer gerade so argumentieren, wie es ihnen in den Kram passt: Einerseits wird behauptet, die Evolution stehe vor einer unüberwindbaren Schranke (oder vor bestimmten Entwicklungszwängen), die nur durch einen Intelligenten Designer überwunden werden könne. Zieht man aber solche Entwicklungszwänge zur Beantwortung der Frage heran, warum die irreparabel verbauten Anpassungen und Kompromisslösungen so zahlreich sind, und fragt dann nach, warum diese durch den Designer nicht überwunden wurden, zieht man sich schnell auf den Einwand zurück, der Designer unterliege ebenso Beschränkungen, wie die Evolution. Damit wird deutlich, wie beliebig die Argumentation der ID-Anhänger ist: Um den Schluss von Komplexität auf Planung plausibel erscheinen zu lassen, kann der Designer evolutionäre Schranken offenbar hinter sich lassen. Steht die grundsätzliche Überwindbarkeit evolutionärer Schranken durch den Designer jedoch im Widerspruch zu den empirischen Daten, wird sie geleugnet. Außer willkürlichen Annahmen über die vermeintlichen Ratschlüsse des Designers (die sich empirisch gar nicht unabhängig von ID prüfen lassen), haben ID-Vertreter jedoch nichts vorzuweisen. (2)

 

Anmerkungen:

(1) Dieses Argument wird auch von den Evolutionsgegnern immer wieder bemüht, wenn damit die Unwahrscheinlichkeit synergetischer evolutionärer Veränderungen begründet werden soll. Nur wird hier eben nicht genau zwischen den Möglichkeiten und Grenzen der Evolution differenziert, sondern schlichtweg jede makroevolutionäre Veränderung als unmöglich oder zumindest sehr unwahrscheinlich eingestuft. Ein solch undifferenziertes Argumentationsmuster ist natürlich unwissenschaftlich, solange nicht genau ausgelotet wurde, welche funktionellen Zwänge konkret welche evolutionären Veränderungen verhindern und welche sie ermöglichen. Dies ist letztlich auch ein KO-Kriterium für das Argument der so genannten „irreduziblen Komplexität“. Wer behauptet, es sei unter funktionellen Aspekten unplausibel, dass bestimmte synorganisierte Strukturen schrittweise auf evolutionärem Wege entstehen können, müsste unter Berücksichtigung aller denkbaren (Vielfach-) Funktionen und erfolgversprechenden Funktionsänderungen alle möglichen und unmöglichen „Pfade“ der Entwicklung (und damit auch die in jedem Stadium der Evolution vorherrschenden Entwicklungszwänge) kennen und zeigen können, dass das Merkmal unter den einst herrschenden Randbedingungen nicht zur Funktionsreife gelangen konnte. Ein solcher Nachweis ist nie geführt worden.

(2) Um etwa die Kreuzung von Luft- und Speiseröhre zu „erklären“, die sich aufgrund der hohen Aspirationsgefahr als potentiell lebensgefährlich darstellt, wird z.B. immer wieder das „Schnupfen-Argument“ angeführt. Danach kreuzen sich die Luft- und Speiseröhre, damit man beim Anschwellen der Nasenschleimhäute überhaupt atmen könne (Rammerstorfer 2006, S. 76). Abgesehen davon, dass man mit solchen „Design-Geschichten“ praktisch jede ungelenke Passung als das Resultat einer „intelligenten Kompromisslösung“ wegerklären kann, werfen solche Deutungen in der Regel mehr Probleme auf, als sie eigentlich lösen. Ist den Erfindern solcher Geschichten wirklich nichts Besseres eingefallen, als die Existenz einer potentiell lebensgefährlichen Konstruktion unter Verweis auf die unliebsame Folgeerscheinung einer übertriebenen Körperabwehrreaktion (Schwellung der Nasenschleimhäute) zu rechtfertigen, aus der aufgrund der „intelligenten Anatomie“ des Menschen wiederum potentiell lebensbedrohliche Folgeerkrankungen, wie z.B. chronische Nebenhöhlenentzündungen, Stirnhöhlenvereiterung bis hin zur Meningitis resultieren können? Eine solche Argumentation kann man nur als bizarr bezeichnen. (Aber es besteht ja, wie ich aus eigener schmerzlicher Erfahrung weiß, zum Glück noch die Möglichkeit des gezielt-intelligenten Eingriffs erfahrener HNO-Ärzte, die durch invasive Maßnahmen zumindest verhindern können, dass das „intelligent arrangierte“ Nebenhöhlensystem weiteren Schaden anrichtet.)

 

Literatur:

Rammerstorfer, M. (2006) Nur eine Illusion? Biologie und Design. Tectum Verlag, Marburg.

Ullrich, H., Winkler, N., Junker, R. (2006) Zankapfel Auge. Ein Paradebeispiel für „Intelligent Design“ in der Kritik? Studium Integrale Journal 13(1), 3-14. http://www.wort-und-wissen.de/index2.php?artikel=sij/sij131/sij131-1.htmlStudium Integrale Journal.

 

2 Comments

  1. Ich darf das mal technisch ausdrücken, mit meinen Worten. Nehmen wir eine Kamera, mit normalem Film. Wenn die Kamera mit dem Film funktioniert, wie das menschliche Auge, ist die lichtempfindliche Schicht des Films nicht in Richtung Objektiv sondern liegt innen in der Kamera, das Licht muss erst den Film durchdringen um die lichtempfindliche Schicht zu beleuchten. Wenn das so ist, dann ist der Schöpfer oder wer auch immer ein Pfuscher. Eine Kamera, die so funktionieren würde, wie das oben gesagte, würde keiner kaufen.

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