Die neue Lust der Atheisten


Von Alexander Kissler – Die Tagespost
Ob es die britische Erlaubnis zur Chimärenzucht ist, oder die deutsche Form des hedonistischen Atheismus – gemeinsam ist dieser neuen Phase des Kulturkampfes die völlige Aufgabe ethischer Normen. Auch der Boden ziviler Humanität weicht auf.

[…]

Jüngstes Flaggschiff im Feldzug der Naturalisten ist ein unscheinbares Bändchen, klassisch gelb gewandet, wie es „Reclams Universal Bibliothek“ seit jeher zukommt. Stolz weist die Giordano-Bruno-Stiftung auf das Bändchen hin: „In der gelben Reihe des Reclam-Verlags ist soeben der erste Band des ,Kolleg Praktische Philosophie (Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft)‘ erschienen. Die Mehrzahl der Beiträge dieses Bandes wurde von GBS-Autoren verfasst.“ Es folgen fünf Namen. Schlägt man das Bändchen auf, so entdeckt man acht Beiträge, von denen genau die Hälfte auf das Konto der Bruno-Stiftung geht. Dass die Hälfte aber die Mehrzahl sei, ist eine Aussage, die nicht so recht in das zahlenbegeisterte Denken der Neoatheisten passen will.

Das Autorenverzeichnis hält die nächste Überraschung parat. Einzig bei dem „freischaffenden Schriftsteller und Philosophen“ Michael Schmidt-Salomon („Wo bitte gehts zu Gott?“) ist dessen Vorstandstätigkeit innerhalb der Bruno-Stiftung angegeben. Die vier übrigen Autoren haben sich jeden Hinweises auf ihr weltanschauliches Sendungsbewusstsein enthalten. Warum? Soll hier nicht nur mit schlaffen Segeln, sondern auch unter falscher Flagge das Meer des Vorurteils durchpflügt werden? Eine solche Zurückhaltung ist schwer verständlich, wollen die Autoren doch laut Umschlagtext Antworten geben „auf die Frage, wie wir leben und handeln sollen“ – es sei denn, es ist ihnen sehr darum zu tun, eben diese Antworten nicht durch einen Hinweis auf das propagandistische Wirken der Bruno-Stiftung unter erhöhten Rechtfertigungsdruck zu setzen.

Welche Antworten erhält der Orientierung suchende Leser, der ohne Kenntnis der Kontexte nach dem Büchlein greift, weil er genau das wissen will, wie er leben und handeln soll? Schmidt-Salomon liefert zuverlässig, wie es zu erwarten war, eine verwissenschaftlichte Fassung seiner These aus dem „Manifest des Evolutionären Humanismus“ (2006) und der „Enzyklopädie für freie Geister und solche, die es werden wollen“ (2007): Das Böse gebe es nicht, es sei eine aus religiöser Indoktrinationslust erfundene, „in der Regel schädliche Hypothese“. Legitimatorischer Glanz soll von den Berggorillas ausstrahlen. Bei diesen „fallen mehr als ein Drittel des Nachwuchses bis zum Alter von drei Jahren Kindstötungen zum Opfer“. Niemand käme nun auf die Idee, einen kindstötenden Gorilla böse zu nennen, „während diese moralische Kategorie auf menschliche Kindermörder in der Regel unhinterfragt angewandt wird. Wie erklären wir uns diese Unterschiede?“

Die Antwort, Tiere seien kategorial verschieden von den mit einer Würde ausgezeichneten und mit Vernunft begabten Menschen, mag Schmidt-Salomon ebenso wenig geben wie irgendeine andere Antwort. Er schlägt stattdessen vor, hinter jeder Handlung, auch der verwerflichsten, absurdesten, brutalsten, „schlichte Gesetzmäßigkeiten“ zu sehen, „biologische Prozesse“ und Interessenkonflikte. Auch diese Aussage kann man seltsam finden: Entdeckt gerade der materialistische Blick, dem alles Geistige suspekt ist, die Natur wieder als Gesetzgeberin? Sind die Gene und die Ganglien und nichts und niemand sonst die Souveräne allen Lebens? So ist es wohl gemeint.

Ähnlich reduktionistisch fasst „GBS-Autor“ Gerhard Vollmer, Philosoph in Braunschweig und Changsha/China, die vermisste naturalistische Ethik in dem Satz zusammen, „überall in der Welt gehe es mit rechten Dingen zu“ – wobei notabene religiöse Praxen und unmaterialistische Phänomene nicht zu den „rechten Dingen“ rechnen. Auch Vollmer singt das Hohelied auf das „Prinzip der natürlichen Auslese“ und den „naturalistischen Erklärungsrahmen“ Darwins, der „die gesamte Biologie“ umfasse, und auch Vollmer lehnt „absolute Normen, Letztbegründungen, kategorische Imperative und Dogmen ab“.

[…]

Der Dritte aus der Giordano-Bruno-Gilde ist Philosoph Bernulf Kanitscheider aus dem mittelhessischen Gießen. Seine Aversion gilt der Vernunftphilosophie, seine Zuneigung der Lust. Hedonist, der er sein will, preist Kanitscheider die beiden Sätze „Wir wollen das, nach dem die Menschen spontan streben, als obersten Wert, als das Gute setzen“, und „Die Lust ist gut“. Nur wo diese Sätze beherzigt werden, entwickele sich alles zum Besten: „In einer Gesellschaft, die auf die Wünsche der Menschen, ihre Lust zu verwirklichen, Rücksicht nimmt, werden alle, wie man an den Sitten des Sexualverhaltens der griechisch-römischen Antike sieht, glücklicher leben.“ Da das 21. Jahrhundert durch ein „Wiedererstarken der auf […] Repression angelegten monotheistischen Religionen“ gekennzeichnet sei, empfehle sich mehr denn je „ein zeitgemäßer Hedonismus“ gemäß der Maxime: „Den Hedonisten interessieren die Folgen seiner Handlungen nur insofern, als sie ihm Hindernisse bei der Erreichung seiner Fernziele bereiten könnten.“

Schweigen wir vom Vierten im atheistischen Bunde, einem Philosophen aus Schwäbisch Gmünd, und halten wir fest: Nicht dass Neoatheisten so reden, wie sie eben reden, nicht dass sie alles Nicht-Atheistische, Nicht-Relative, Nicht-Diskursivierbare verbannen wollen, ist das Brandneue dieser Tage – sondern dass sie es tun im geborgten Gewand klassischer normativer Philosophie und doch gerade diese und damit den Boden des gesamten abendländischen Denkens, den Boden auch der zivilen Humanität hinwegräumen wollen. Das ist nicht nur Camouflage, das ist auch Chuzpe und eine Prise Unlauterkeit. An einem aber herrscht nun kein Zweifel mehr: Der Kulturkampf tritt in eine neue Phase. Nicht die Gläubigen sind für diese Verschärfung verantwortlich. Sie wären aber dafür verantwortlich, wenn der Abschied von der bisherigen Welt so ganz geräuschlos gelänge.

26 Comments

  1. @Dodo

    War ja nicht so als hätte Eules Kommentar irgendwas sinnvolles enthalten. Mit einem ad hominem „Argument“ gewinnt man soweit ich weiß keinen Blumentopf.

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  2. Also bitte mal den Ironiefaktor ausschalten, es haben das Buch immerhin noch nicht alle gelesen:
    Es behauptet dort nicht ernsthaft einer der Herren, es ließen sich ethische Normen aus den Gegebenheiten der Natur ableiten (naturalistischer Fehlschluss)?

    Die Aussagen sind in dem Zeitungsartikel aus dem Zusammenhang gerissen wiedergegeben, etwa die Ausführung zu den Berggorillas, um die Aussage in ihr Gegenteil zu verstellen.

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  3. Vielleicht ist der Hintergrund der im Artikel ausgedrückten Spannungen, die sich auch in dieser Diskussion fortsetzen, dass Gläubige sich provoziert und persönlich verworfen fühlen wenn sie mit „treffenden“ Meinungsäußerungen umgehen müssen. Ich kann oft nicht erkennen wie sich die postulierte Toleranz der Brights hier im Forum, also in der Praxis, umsetzt. Besonders wenn eine Veränderung zu einer Gesellschaft gut geheißen wird, die aus christlicher Sicht beängstigend erscheint. Muss die Seite der Gesellschaft die Veränderung will, nicht ganz anders „mitnehmen“? Wieviel schlimmer ist es, wenn der Glaube eines Menschen verletzt wird im Unterschied für einen Nichtgläubigen der durch die Erstgenannten provoziert wird? Ist es eurer Meinung nach genauso schlimm, da es keinen Unterschied zwischen persönlicher Überzeugung und Glauben gibt?
    Ich fand den Zusammenhang des ersten Teils in obigen Artikel mit dem hier zitierten Teilen recht lose, also ein Lob auf die „[…]“, ansonsten fand ich den Tagespostartikel eigentlich ganz nachvollziehbar.

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  4. @Eule:

    Eine Erklärung wie das ominöse „Geist-In-Welt-Sein“, in den Menschen kam und warum es nur auf den Menschen zutreffen soll, hast du auch parat, nehm ich an?

    Die synthetische Evolutionstheorie hast du ebensowenig verstanden wie ihre Grenzen. Keiner ausser dir behauptet, sie würde alles erklären wollen oder können.

    @kroski

    Dawkins versucht nicht zu beweisen das es keinen Gott gibt. Er weiß das es nicht möglich ist.
    Doch ist Abwesenheit von Belegen , wenn nicht schon Beleg von Abwesenheit, ein sehr starker Hinweis auf die Abwesenheit des Gegenstandes.

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  5. Falsch Korski, nicht die Atheisten müssen einen Beweis für Gottes Existenz finden, sondern die Gläubigen müssen einen Beweis liefern, da sie die Behauptung aufstellen, es gäbe einen/mehrere Gott/Götter.

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  6. Aha, jetzt haben wir Naturalisten also nicht nur die Religion, sondern auch „die zivile Humanität“ auf dem Gewissen. Wir sind ja wirklich brandgefährlich …

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  7. Ob nun Gott dem Adam den Geist einblies oder Athene Prometheus‘ Tonwerk die Weisheit, letztlich führt beides zur Aufblähung des Großhirnes, was die Evolutionstheoretiker mit dem Schädelwachstum unserer Vorahnen eindrücklich bewiesen haben.
    Unterschiedliche Sichtweise (wissenschaftlich oder mythologisch ausgeschmückt) für ein und den selben Sachverhalt: Ping-Pong auf hohem Niveau!
    Satz und Sieg für die Vernunft…

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  8. „Agnostisch denkende Autoren wie Martin Heidegger oder Albert Camus verzichteten übrigens darauf, ihre philosophisch-ethischen Positionen anhand naturwissenschaftlicher Phänomene gewissermaßen zu standardisieren – das hat einfach Klasse.“

    Das hatte Klasse, vor etwa 2 Generationen. Es genügt doch, dass gehätschelte Evolutionisten wie R. Dawkins zwar reklamieren, dass sie noch Erkenntnisse aus der Physik benötigen, um ihr naturalistisches Weltbild rechtfertigen zu können. Was machen sie also? Sie sind ‚damned‘ bemüht, die Nichtexistenz Gottes zu „beweisen“, und auch auf diesem Terrain können sie bestenfalls auf Wahrscheinlichkeiten zurückgreifen…

    I kotz on you, popular science – viel mehr fällt mir dazu nicht ein.

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  9. Sirius, da bist Du nicht richtig informiert: Mit besagtem Terminus ist insbesondere die Reduktion des Menschseins als Geist-in-Welt-Sein auf rein naturalistisch interpretierte Evolutionsprozesse gemeint, inklusive der aus diesem Sein generierten Kulturphänomene wie Religion, Ethik und Moral. Ich verurteile Menschen nicht, die ihre ethischen Prinzipien auf der Basis einer naturalistischen Weltanschauung formulieren, und ich verdrehe demzufolge auch keine Aussagen – ich wende mich indes gegen die weltanschauliche Interpretation der Synthetischen Evolutionstheorie als alles erklärender Deutungsschlüssel, mithin gegen den unreflektierten Wahrheitsanspruch der naturalistischen Weltanschauung resp. des Evolutionismus. Agnostisch denkende Autoren wie Martin Heidegger oder Albert Camus verzichteten übrigens darauf, ihre philosophisch-ethischen Positionen anhand naturwissenschaftlicher Phänomene gewissermaßen zu standardisieren – das hat einfach Klasse.

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  10. @Eule:
    Es gibt nur leider eine kleine Differenz zwischen „kritisch aufspeißen“ und dem Verdrehen von zentralen Aussagen und Ansichten bestimmter Autoren.
    Leider geht dein Beitrag ja in eine ähnliche Richtung: Es spricht doch nichts dagegen, wenn sich jemand Gedanken über eine bessere Gesellschaft macht, in der Normen, Werte und Ethik nicht durch ein 2000 Jahre altes Buch festgeschrieben werden. Das Wort Evolutionismus, das zurecht einen negativen Beigeschmack trägt ist hier wirklich nicht so ganz passend.

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  11. Na, meinst Du ich? Hypnotisch indes ist die Totalreduktion menschlicher Existenz auf die fünf Sinne; zähle einen hinzu und Du hast den sechsten: Den Glauben…

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  12. Was Dir den Ballon so steigen läßt, ist keine Inszenierung finsterer Logen, sondern die kritisch aufgespießte ideologische Universalisierung der Synthetischen Evolutionstheorie zu dem, was Kritiker mit dem Terminus „Evolutionismus“ kennzeichnen – der sog. Evolutionäre Humanismus ist lediglich die derzeit meistdiskutierte Variante desselben. Es wird Dich möglicherweise überraschen: Ich mag Michael, und ich schätze ihn insbesondere dafür, daß er mit offenem Visier streitet. Alles andere ist Mumpitz.

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  13. Andreas, wenn sie Sonntags gebadet sind und gebeichtet haben, sind die gaaaaaanz unschuldig.
    Wir als Atheisten bringen das Böse in diese Welt. Selbst Exorzismus wird uns dann noch angelastet. Ich warte darauf, wenn Otto Maurer bekennt, dass er Atheist ist. :mrgreen:

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  14. auch Vollmer lehnt „absolute Normen, Letztbegründungen, kategorische Imperative und Dogmen ab“.

    Na denn?!

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  15. Die Christen haben also keine Argumente mehr und was sie ersetzt, ist eine paranoide Verschwörungstheorie.

    „Dass die Hälfte aber die Mehrzahl sei, ist eine Aussage, die nicht so recht in das zahlenbegeisterte Denken der Neoatheisten passen will.“

    Oho! Eine böse Verschwörung gemeingefährlicher Atheisten! Sie haben die Zahl der Beiträge von GBS-Autoren in dem Bändchen falsch eingeschätzt, wahrscheinlich fressen sie auch kleine Kinder!

    „Sind die Gene und die Ganglien und nichts und niemand sonst die Souveräne allen Lebens? So ist es wohl gemeint.“

    So ist es wohl gemeint von MSS, der immer wieder vor dem „Biologismus“ warnt, so ist das wohl gemeint!

    „Vollmer singt das Hohelied auf das „Prinzip der natürlichen Auslese““

    Das schwingt der Vorwurf des Sozialdarwinismus schön unterschwellig mit.

    „Nicht die Gläubigen sind für diese Verschärfung verantwortlich.“

    Nein, ihr seid ganz unschuldig mit eurer Darstellung von morallosen Atheisten, welche die Humanität zerstören wollen! Ganz unschuldig!

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  16. Kim, so schön Dein Vorname auch ist, aber Du erwartest von besagter Zeitung offenbar den feigen Rückzug aus dem, was Bischof Huber & Co. längst aufgegeben haben. Tja, was Luther wohl dazu gesagt hätte? Wohl: Auf Dich, Klaus…

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  17. Was soll man denn erwarten von der „Katholischen Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur““? ^^

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  18. Die einleitenden Worte sind mal wieder typisch. Wie kann man nur glauben Ethik ist Atheisten fremd? Schlimm sowas….

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  19. Ich habe nach dem lesen dieses Pamphlet spontan lust mir die augen außzustechen und meinen Kopf wiederholend auf meinen Tastatur zu schlagen…

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