Fraktionsdisziplin statt Gewissen?


Grundgesetz
Quelle: abgeordnetenwatch.de

Was bedeutet Demokratie in Deutschland? Nicht was wir immer dachten – dass sie gut etabliert vorhanden und wie sie sei. Der Parlamentarismus birgt unangenehme Überraschungen.

Obwohl ich den Begriff „Fraktionsdisziplin“ natürlich schon häufig gehört habe, habe ich mir immer was Logischeres, Netteres, Nachvollziehbareres darunter vorgestellt.  Ohnehin ist das Wort ein grauenhafter Euphemismus (auf Deutsch: Schönfärberei) für FraktionsZWANG. Wer nicht kuscht und gemäß Vorgaben von oben abstimmt, der wird mit Entziehen der Aufstellung zur nächsten Wahl abgestraft. Freiheit des Mandats – bleibt im Halse stecken.

Kein Wunder also auch – angesichts dieser manipultiven Tatsachen – dass die Bundestagsverwaltung einen seit Jahren immer weiter ausgeweiteten PR-Etat besitzt. Auf allen möglichen Regional-Wirtschaftsmessen sind sie mit einem großzügig bemessenen eigenen Messestand vertreten. Ihre Glaubwürdigkeit wird dadurch aber keineswegs gewachsen sein.  Die Messe-Präsentation ist bieder und rundherausgesagt stinklangweilig! Das gilt aber für die im folgenden dokumentierte Info keineswegs.

blog-abgeordnetenwatch.de

Einblick in die “Fraktionsdisziplin”: Abweichler müssen sich schriftlich erklären

geschrieben am 17.06.2010 um 17:15

Einen ungewohnt offenen Einblick in fraktionsinterne Abläufe hat jetzt der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler in einer Antwort auf abgeordnetenwatch.de gegeben.
“Jeder Abgeordnete”, so Gauweiler, “muss nach seiner Fraktionsordnung einen Tag vor der Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will.” Zugespitzt könnte man sagen: In Deutschland muss sogar das freie Gewissen bei der Fraktionsführung angemeldet werden.

Gauweiler weiß wovon er spricht. Der CSU-Abgeordnete hat in dieser Wahlperiode mindestens sieben Mal gegen die eigene Fraktion gestimmt, beim Rettungspaket für Griechenland zog er sogar gegen den Antrag der schwarz-gelben Bundesregierung vors Verfassungsgericht. Zuletzt machte er Schlagzeilen mit einer Anfrage an die Regierung zum Hintergrund des Rücktritts von Horst Köhler. Gauweiler will Auskunft darüber, ob “die Bundesregierung den Bundespräsidenten bedrängt oder gedrängt” (hat), das Euro-Rettungspaket schnellstmöglich zu unterschreiben. Gauweiler ist also alles andere als ein Abnicker.

abgeordnetenwatch.de hat heute die Parlamentarischen Geschäftsführer der fünf Bundestagsfraktionen um eine Stellungnahme zu folgenden Fragen gebeten:

  • Muss ein Abgeordneter laut Ihrer Fraktionsordnung vor einer Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will?
  • Wenn ja: Warum ist dies so?
  • Wird oder wurde in Ihrer Fraktion vor wichtigen Abstimmungen und bei knappen Mehrheiten (während Ihrer Regierungsbeteiligung) Abweichlern direkt oder indirekt mit Sanktionen gedroht (z.B. Nichtberücksichtigung bei Listenaufstellung)?

Die Antworten von Peter Altmaier (CDU/CSU), Thomas Oppermann (SPD), Jörg van Essen (FDP), Dagmar Enkelmann (Die Linke) und Volker Beck (Grüne) werden wir hier im Blog veröffentlichen.

Nachtrag vom 18.06.2010, 10:55 Uhr:
Leser Sven weist in den Kommentaren auf eine aktuelle Petition zum Verbot von Probeabstimmungen und Fraktionszwang hin: https://epetitionen.bundestag.de/petition=12307

7 Comments

  1. Es ist kein Zufall, dass dies mit der Demokratisierung des britosch. Parlamentes einherging und der Entstehung von echten Wahlkaempfen:

    Vor dem „Representation of the People Act 1832“, kurz Reform Act 1832, wurde das Parlament im wesentlich von den „besser gekleidetenden Staenden“ (ein Mindestquotum an Landbesitz und unter Ausschluss weiter teil des staedt. Buegertum) in einem skandloes ungerechten Verfahren („Rotten boroughs“ und „Pocket Boroughs“) gewaehlt. 1832 wurden die uebelsten Missstaende beseitigt und die Waehlerschaft auf rund 13% der Bevoelkerung erhoeht. Diese Zahl stieg im 19. Jahrhundert kontinierlich, da sich die Einkommensverhaltnisse des Buegertums staendig verbesserten.

    Das fuerhrte in den 1850/60ern zu den ersten modernen Wahlkaempfen und konsequenterweise dem Entstehen von Parteimaschinen. Der Representation of the People Act 1867 erweiterte die Waehlerschaft auf ueber 60% der maennlichen Bevoelkerung.

    Das alte System der Gentlemen und des Old Boys Network konnte in den neuen Bedingungen einer Massendemokratie nicht funktionieren.

    Das System des Fraktionszwangs ist also ein legitimes Kind der Massendemokratie. Selbst im britischen System der einzelwahlkreis, wird nicht fuer „John Smith“ gestimmt, weil man fuer so gut haelt, sondern weil er der Kandidat einer Partei ist.

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  2. @yerainbow

    Die Idee ist etwas aelter: Sie stammt aus der britischen Politik des 19. Jahrhunderts.

    Im 18. Jhrdt. und bis weit das 19. hinein gab es keine politsche Parteien im modernen Sinne. Die beiden Parties, die Whigs und die Tories, waren eher Gentleman’s Clubs, verbunden durch Verwandschaft, Freundschaften, Seilschaften, aber keine Parteien.

    Das fuehrte dazu, dass je Abstimmung im Parlament eine Zitterpartie wurde. In den 1860ern aenderte sich das, nicht zuletzt weil Leute wie Gladstone und Disraeli soetwas wie Parteien aufbauten.

    Damals entstand der „Whip“ (woertlich: die Peitsche): Abgeordnete, derren Aufgabe es ist, aufzupassen ob ihre Parteikollegen im Parlament alle zu wichtigen Abstimmungen anwesend sind und auch richtig abstimmen.

    Kurz zur Funktion hier:
    http://news.bbc.co.uk/1/hi/uk_politics/81980.stm

    Und hier zum Hintergrund:

    Klicke, um auf snpc-02829.pdf zuzugreifen

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  3. ja, wie lernte ich in der Schule schon (ddr)? „Vom sozialismus lernen heißt Siegen lernen“
    Die Parteien haben das ganz fix begriffen.
    Im Osten früher hieß das „parteidisziplin“.
    War genau das, was jetzt Franktionsdisziplin genannt wird.

    Alles echte Sozialisten. Bin echt baff.

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