
Ob Putin oder Trump, Erdogan oder Orban, Xi oder Abe – in der Auseinandersetzung mit den neoautoritären Tendenzen der Gegenwart fällt regelmässig der Begriff «Faschismus». Was taugt er zur Analyse?
Von Ulrich M. Schmid | Neue Zürcher Zeitung
Der amerikanische Senator John McCain beschimpft Viktor Orban als «neofaschistischen Diktator», ein Warschauer Korrespondent der ARD nennt die Sprache von Jaroslaw Kaczynski «faschistisch», die «Zeit» titelt: «Donald Trump hetzt wie ein Faschist». Immer wieder taucht der «Faschismus» im öffentlichen Diskurs als Superlativ der Ablehnung auf – auch in Bezug auf den Islamismus und den Putinismus. Allerdings fragt sich, ob solche Vergleiche überhaupt einen Erkenntnisgewinn bringen. Bis heute hat sich nicht einmal die Geschichtswissenschaft auf eine verbindliche Definition des Faschismus einigen können. Umso weniger taugt der «Faschismus» als analytische Kategorie für Gegenwartsphänomene.
Überholte Totalitarismustheorie
Im deutschsprachigen Raum denkt man bei «Faschismus» reflexartig an Hitlers «Machtergreifung» im Jahr 1933 und vergisst dabei vier Dinge: Erstens war Mussolini zu diesem Zeitpunkt bereits seit elf Jahren an der Macht, zweitens etablierten sich im Europa der Zwischenkriegszeit von Portugal bis Estland zahlreiche rechtsautoritäre Regime, drittens ist die Vokabel «Machtergreifung» selbst Bestandteil von Hitlers Rhetorik, weil sich die Nationalsozialisten nicht als Gewinner eines bürgerlich-demokratischen Prozesses, sondern als Revolutionäre verstehen wollten. Viertens ist umstritten, ob der deutsche Nationalsozialismus wegen der Singularität des Holocausts überhaupt zum Phänomen der europäischen «Faschismen» gezählt werden kann.
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