
Überall beschwört man das Ende des Westens. Wie sicher sind wir in Düsseldorf oder Berlin eigentlich vor dem Rückfall in Massaker und Völkermord? Der Soziologe, Regisseur und Autor Milo Rau hat sich intensiv damit auseinandergesetzt, was den Menschen zur Gewalt verleitet und was ihn davon abhält
Interview mit Milo Rau von Constantin Magnis | Cicero
Herr Rau, Sie haben sich wie wenige andere Künstler mit der Gewaltgeschichte der Menschheit auseinandergesetzt. Machen Sie die Umbrüche unserer Zeit – Stichworte Russland, Terror, Flüchtlinge, Brexit, Trump – vor dem Hintergrund ihrer eigenen Recherchen nicht ziemlich nervös?
Ja, natürlich. Meine Beobachtung als Soziologe und Künstler ist: Barbarei ist der Normalzustand, Zivilisation die Ausnahme. Trotzdem ist dieser Ausnahmezustand etwa in den USA und in Westeuropa institutionell ziemlich gut abgesichert. Das war – und ist teilweise – natürlich anders an Orten, die ich in verschiedenen meiner Projekte sehr genau untersucht habe, etwa in Ruanda, in Teilen des ehemaligen sowjetischen Imperiums oder im Nahen Osten. Die Menschen dort sind durch keine juristischen oder zivilgesellschaftlichen Strukturen vor staatlicher, wirtschaftlicher oder bürgerkriegsartiger Gewalt geschützt. Aber ohne diesen Schutz kann leicht ein totalitäres Gefüge entstehen, es kann sogar zu einem Genozid kommen. Im globalen Kapitalismus ist dieses Nebeneinander von Chaos und Rechtssicherheit ein Stück weit Normalität.