Das häßliche Entlein hinter der Kastanie


Die kleine Meerjungfrau im Hafen von Kopenhagen. Bild: wikimedia.org/CC BY-SA 3.0/ Edvard Eriksen (Skulptur) / Denny Richter (Foto) – selbst fotografiert
Ein paar Fetzen vom subkutanen Empfinden – ins Merkbuch der „Besorgten Eltern“

Von Wolfgang BroscheAlice Miller gewidmet | DIE KOLUMNISTEN

Nicht bloß ins Merkbuch – es müßte es ihnen ins Markbuch, ins Mark, eingeschrieben werden, den Eltern, die uns erklären, sie würden ihr Kind lieben, die aber nichts von ihm verstehen, die es nicht sehen, nicht hören und nicht fühlen, die alles aufs Kleinste, Intimste, Perfideste und Sorgsamste bekämpfen, was dem Bild ihres Kindes nicht entspricht, das sie sich gemalt haben und das im Grunde nichts weiter ist als ein Porträt ihrer elterlichen Wunschträume vom Besitz am Kind. Es geht den besorgten Eltern der „Demo für Alle“ nicht allein um die kindliche Sexualität, die sie fürchten (eigentlich fürchten sie ja die ihre) – es geht um alles: das Leben des Kindes, das sie beherrschen und sich einverleiben wollen. Das Thema Sexualität läßt ihren Kampf heroisch wirken, aber hinter dieser Camouflage steht die Zerstörung des Gefühls und der selbstständigen Lebensfähigkeit, stecken Herrschsucht über die und Ablehnung der neuen Generation.

Was ihr Vernichtungskampf, denn das ist der Kampf der „Demo für Alle“, im empfindsamen, neugierigen, lebenshungrigen Kind anrichtet, hat vor über 150 Jahren Hans Christian Andersen in seinen Märchen beschrieben: Metaphern und Allegorien der Traurigkeit, der Unterdrückung, der Lebensvergällung… er hat seine eigenen Erfahrungen mit soviel romantischer Schönheit verklärt, daß viele bis heute nicht begreifen, was er da eigentlich erzählt. Wahrscheinlich ist es ihm selbst nicht bewußt gewesen (wie auch – so viele Jahrzehnte vor Freud), denn er hat die Seelenzerstörung akzeptiert, wie alle Kinder, die sie durch Gewöhnung für den Normalfall halten, für den sie auch noch dankbar sein müssen, weil sie angeblich aus Liebe geschah, diese Vernichtung. Andersen hat die Tränen, die er geweint und die Tränen, die er unterdrückt hat, ästhetisiert und aus der Tragödie Märchen gemacht.

Ich erzähle hier für die Kinder, gegen die die „Demo für Alle“ kämpft, was mir mit Hans Christian Andersens Märchen geschah:

Dieses Buntstiftbild – ich malte von Beginn an immer lieber mit Faber-Buntstiften als mit den schmierigen Wachsmalkreiden für die Patschhände – das Buntstiftbild schien meiner Volksschullehrerin so erwähnenswert, daß sie es beim Elternabend ansprach. Immerhin wußte sie zu rühmen: „Der Junge hat Phantasie…!“ – Worauf meine Mutter bitter-geschmeichelt lächelte und anmerkte: „etwas weniger Phantasie und etwas mehr Sinn für Mathematik wie bei seinem Vater wäre besser. Er soll doch kein Träumer werden!“

Mir wäre lieber gewesen, die Lehrerin hätte die Genauigkeit gelobt, mit der ich die dicke Kastanie gemalt hatte, denn die hatte ich zuvor auf der Stadtpromenade eingehend studiert. Zweitklässerrecherche. Die Kastanie mußte stimmen, auch wenn es überhaupt nicht um sie ging. – Man sieht: dasVerschleiern und Verbergen war mir schon pflichtbewußt Natur!

weiterlesen