
Internet, Terror, politische Korrektheit, Migration: Alle vier Entwicklungen bringen tiefgreifende Wandlungen im Verhältnis von Herrschen und Lügen mit sich. Dabei trifft sich der Zynismus von oben immer öfter mit dem Zynismus von unten. Was bedeutet das für die Zukunft des Westens?
Peter Sloterdijk | Neue Zürcher Zeitung
Es gehört zu den eindrucksvollsten Merkmalen der Hochkulturen, die seit dem ersten vorchristlichen Jahrtausend den Gang der Zivilisationsgeschichte befeuern, dass sie «den Menschen» mit zunehmender Explizitheit als ein Wesen auffassen, in dessen Natur es liege, Irrtümern zum Opfer zu fallen. Damit war nicht gemeint, «der Mensch» sei im alltäglichen Umgang mit Dingen und seinesgleichen nie ganz vor dem Risiko zu schützen, sich in der einen oder anderen Hinsicht zu täuschen. Die hochkulturellen Weltanschauungen dramatisieren das Durchdrungen-Sein des Daseins von der Spannung zwischen Wahrem und Falschem bis an einen Punkt, an dem es in Gefahr gerät, einer umfassenden Täuschung zu verfallen. Von Anfang an scheint es eingetaucht in eine Irrtums-Ganzheit, aus der es sich nur durch ausserordentliche spirituelle Anstrengungen loszulösen vermag oder, sofern diese nicht genügen, dank dem Entgegenkommen der aus menschlicher Eigenmacht unerreichbaren Wahrheit.
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