
Ruhen die Natur- und empirischen Sozialwissenschaften (Realwissenschaften) auf metaphysischen Annahmen? Eine breite Mehrheit von Wissenschaftlern dürfte diese Frage entschieden verneinen. Wissenschaft, so die populäre Meinung, beschäftige sich ausschließlich mit Fakten und Belegen. Und um sie zu gewinnen, genüge ein „virtuoser Zirkel“ aus Theorienbildung und Theorienüberprüfung. Dieser Zirkel ist unter der Bezeichnung wissenschaftliche Methode geläufig.
Martin Neukamm | AG-Evolutionsbiologie
Aber dass diese „Methode“ ohne ein bestimmtes metaphysisches Fundament gar nicht erst sinnvoll anwendbar wäre, ist kaum bekannt. Intellektuelle, die dem Empirismus nahestehen, setzen Metaphysik gar mit nutzloser Spekulation oder Religion gleich – ein schwerer Irrtum, wie der Biologe und Wissenschaftstheoretiker Martin MAHNER in seinem Buch darlegt.
Warum ein Buch über den metaphysischen Naturalismus?
Bereits der Titel verdeutlicht in erfrischender Klarheit, dass die
Wissenschaften nicht ohne den metaphysischen (oder: ontologischen) Naturalismus
auskommen. Um die bekannten Abwehrreflexe
zeitgenössischer Wissenschaftler zu kontern, betont der Autor,
dass Metaphysik (Ontologie) mit Religion heute nichts mehr zu tun habe.
Vielmehr handele es sich um eine respektable philosophische Disziplin,
die allgemeine Fragen zum Sein und Werden der Welt thematisiert. Die
Metaphysik behandelt Fragen, die den Zuständigkeitsbereich der
Einzelwissenschaften übersteigen: Gibt es eine
subjektunabhängige Wirklichkeit? Was ist Kausalität?
Kann etwas aus nichts entstehen? Ist das Universum „kausal
geschlossen“? Und so weiter.
Der Naturalismus der Realwissenschaften ist ebenfalls metaphysisch; er
postuliert, dass es in der Welt überall „mit rechten
Dingen“ zugeht. Freilich ist dies ist eine stark
verkürzte Definition, die Philosophen im Rahmen einer
systematisch ausgearbeiteten Ontologie konkretisieren müssen.
Intuitiv weiß aber jeder, was damit gemeint ist:
Übernatürliche Wesen wie Götter, Gespenster
und Dämonen brauchen sich als personale immaterielle
Geist-Entitäten weder an Naturgesetze zu halten noch
notwendigerweise mit materiellen Objekten
(„Dingen“) zu interagieren. Sie sind Wesen mit
beliebigen magischen Fähigkeiten. Dem Naturalismus zufolge
existieren solche Entitäten nicht. Und in der Praxis verhalten
sich alle Wissenschaftler wie metaphysische Naturalisten. Andernfalls
müssten sie ihren empirischen Methoden misstrauen, da diese
(etwa, wenn ein Experiment scheitert) übernatürlich
beeinflusst sein könnten.
Mit der naturalistischen Basis ist es wie mit der muttersprachlichen
Grammatik: Intuitiv wenden wir sie alle an, systematisch darlegen
können sie nur wenige. Solange sich Wissenschaftler auf ihr
Handwerk beschränken, ist das unproblematisch. Da jedoch
Angriffe „von außen“ nicht ausbleiben,
ist es notwendig, sie zu verteidigen. Spätestens wenn wir uns
mit dem Kreationismus
beschäftigen und darlegen
müssen, warum er nicht als wissenschaftliche Alternative zu
den etablierten Theorien taugt, ist die Rückbesinnung auf
metaphysische Aspekte erforderlich.
In überzeugender Weise schlägt MAHNER die logische
Brücke zwischen naturalistischer Ontologie und Methodologie.
Er klärt auf, warum Operationen wie Beobachten,
Experimentieren, Erklären sowie das
Überprüfen von Theorien nicht metaphysisch
voraussetzungsfrei zu haben sind. Bereits die Annahme, dass eine
Substanz in einer Messapparatur weder aus dem Nichts entstand noch ins
Nichts verschwindet, ist metaphysisch. Experimente wären
sinnlos, wenn wir in Betracht zögen, dass unsere
Datenerhebung, Wahrnehmung und theoretischen Interpretationen durch
Übernatürliches kontaminiert sein
könnten.
Kommt die Wissenschaft mit einem schwächeren Naturalismus aus?
Um diese Konsequenz zu vermeiden, einigten sich die Supranaturalisten geflissentlich auf die These, dass sich das Übernatürliche nur dort austobt, wo es um heilsgeschichtliche Zusammenhänge geht: beim Erhören von Gebeten etwa, bei der Erschaffung der menschlichen Seele und der Welt. Dort hingegen, wo experimentiert und theoretisiert wird, soll alles Übernatürliche konsequent wegschauen. Unser Autor entlarvt diesen sogenannten Nicht-Interventionismus als willkürliche Hilfshypothese, die dazu dient, den Supranaturalismus wissenschaftskonform zu gestalten.
Konsequent sind aus MAHNERs Sicht nur zwei Positionen: zum einen der starke ontologische Naturalismus, der die Existenz von Übernatürlichem verneint. Sein Markenkern ist der Anspruch der universellen Geltung bzw. Reichweite, der, wie wir noch sehen werden, scheitern könnte. Konsequent ist zum anderen der Okkasionalismus von Nicolas MALEBRANCHE (1638–1715), wonach jeder kognitive Zustand einer göttlichen Verursachung bedürfe. (In einer weiter gefassten Version des Okkasionalismus sind sogar alle in der Natur stattfindenden Prozesse eines göttlichen Anstoßes bedürftig.)
Doch Wissenschaft zu betreiben wäre unter dieser Annahme nicht vernünftig möglich. Religiöse mögen zwar behaupten, ihr Gott garantiere die Vertrauenswürdigkeit unserer Wahrnehmungen, da er uns nicht täusche. Wer einen solchen Gott ins Auge fasst, kann aber nicht intersubjektiv nachvollziehbar erklären, warum es nicht auch geboten sein sollte, Interventionen des Teufels oder diverser Lügengeister zuzulassen.