Wie religiös geprägte Vorurteile aus dem Mittelalter bis heute nachwirken
Alfred Bodenheimer | Jüdische Allgemeine

Wir kennen die Erklärung bis zum Abwinken: Weil den Juden im Hochmittelalter in Europa Landbesitz und die meisten anderen Erwerbszweige verboten gewesen seien, hätten sie sich auf den Geldhandel konzentriert, da das christliche Zinsverbot für sie nicht galt. Kurzum: Es sei die pure Not gewesen, die Juden in dieses Metier trieb.
Doch das habe dazu geführt, dass die Menschen, die unter dem Zinsendienst ächzten, zwangsläufig Juden mit Schlauheit in Geschäftsdingen wie aber vor allem auch Geldgier in Verbindung brachten – und bis heute seien Verschwörungstheorien gegen die »Rothschilds« oder die Umschreibung der »Banker von der amerikanischen Ostküste« von dieser unseligen historischen Grundlage, die mit dem Charakter der Juden gar nichts zu tun habe, infiziert.
Eine Erklärung, die nichts erklärt. Denn nebst den Juden waren im mitteleuropäischen Raum des Hochmittelalters die Italiener (damals allgemein Lombarden genannt) mindestens ebenso im Bankwesen engagiert, sie gelten als dessen eigentliche Erfinder.
Über das Zinsverbot sahen sie hinweg, und die sogenannten kurzfristigen »Lombardenzinsen« (bis heute im Lombardsatz für Banken anklingend) zeichneten sich gerade durch ihre exorbitante Höhe aus. Dennoch geht heute niemand davon aus, dass es aus der Lombardei gesteuerte Machenschaften gibt, die das Finanzsystem in Krisen, Völker in Kriege oder Bevölkerungen durch Seuchen in Panik stürzen, um daraus Profit und Macht zu ziehen – sämtlich Dinge, die der »jüdischen Finanzmacht« dauernd unterstellt werden.