Bright Stuff

 

Inhaltverzeichnis

  1. The Bright Stuff – Daniel Dennett
  2. Geht es überall in der Welt mit rechten Dingen zu? – Gerhard Vollmer
    1. Zwei wichtige Merkmale: Universalität und Mittelbeschränkung
    2. Thesen des Naturalismus
      1. Nur soviel Metaphysik wie nötig!
      2. Soviel Realismus wie möglich!
      3. Bei der Erforschung der Natur ist die erfahrungswissenschaftliche Methode allen anderen überlegen.
      4. Die Natur ist primär materiellenergetisch, und zwar sowohl in zeitlicher als auch in kausaler Hinsicht.
      5. Alle realen Systeme – einschließlich des Kosmos als Ganzen – unterliegen der Entwicklung, der Evolution, dem Auf- und Abbau, dem Werden und Vergehen.
      6. Komplizierte Systeme be- und entstehen aus einfacheren Teilsystemen.
      7. Die reale Welt ist zusammenhängend und quasi-kontinuierlich.
      8. Instanzen, die alle menschliche Erfahrung übersteigen, sind zwar denkbar, für die Betrachtung, Beschreibung, Erklärung und Deutung der Welt jedoch entbehrlich.
      9. Wunder gibt es nicht.
      10. Es gibt keine außersinnliche Wahrnehmung.
      11. Auch das Verstehen der Natur führt nicht über die Natur hinaus.
      12. Es gibt eine Einheit der Natur, die sich in einer Einheit der Wissenschaft spiegeln könnte.
    3. Was ist für den Naturalismus unabdingbar?
    4. Warum bin ich Naturalist?
  3. Let There Be Brights – Richard Dawkins

 


 

I. The Bright Stuff – Daniel Dennett

Die Zeit ist reif für uns Brights, uns zu bekennen. Was ist ein Bright? Ein Bright ist eine Person mit einem naturalistischen Weltbild, frei von Übernatürlichem. Wir Brights glauben nicht an Geister, Elfen oder den Osterhasen – oder an Gott. Wir sind uns nicht in allem einig und haben die verschiedensten Ansichten über Moral, Politik und den Sinn des Lebens, aber wir teilen den Zweifel an schwarzer Magie – und an ein Leben nach dem Tod.

Der Ausdruck „Bright“ wurde vor kurzem durch zwei Brights aus Sacramento, Kalifornien geprägt, die der Meinung waren, daß unserer Gesellschaftsgruppe – deren Geschichte bis mindestens in die Aufklärung reicht – eine Imageverbesserung gut täte und ein neuer Name dabei hilfreich sein könnte. Das Substantiv sollte nicht mit dem Adjektiv [engl. ‚bright‘: hell, klar, intelligent‘] verwechselt werden: „Ich bin ein Bright“ ist keine Prahlerei, sondern ein Ausdruck des Stolzes über ein auf stetigem Hinterfragen beruhenden Weltbild.

Vielleicht sind Sie ein Bright. Selbst wenn nicht, haben Sie sicher jeden Tag mit Brights zu tun. Weil wir überall sind: Wir sind Ärzte, Krankenschwestern, Polizisten, Lehrer, Schülerlotsen und SoldatInnen. Wir sind Ihre Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern. An unseren Hochschulen und Universitäten wimmelt es von Brights. Unter Wissenschaftlern stellen wir die Mehrheit. Da es uns daran gelegen ist, Kultur zu bewahren und zu vermitteln, unterrichten wir sogar in der Sonntagsschule und in Hebräischklassen. Ich vermute, daß viele Geistliche geheime Brights sind. Tatsächlich sind wir das moralische Rückgrat der Nation: Brights nehmen ihre bürgerlichen Pflichten gerade deshalb ernst, weil wir nicht glauben, daß Gott die Menschheit vor ihren Torheiten beschützen kann.

Als erwachsener, weißer, verheirateter Mann mit finanzieller Sicherheit, sah ich mich nie als Mitglied einer Minderheit, die Schutz bräuchte. Ich dachte, wenn irgendjemand das Sagen hat, dann wohl Leute wie ich. Aber inzwischen spüre ich einigen Druck, und obwohl es noch nicht ungemütlich ist, habe ich realisiert, daß es Zeit ist, Alarm zu schlagen.

Ob wir Brights nun eine Minderheit sind oder – wie ich glaube – eine schweigende Mehrheit, unsere tiefsten Überzeugungen werden immer häufiger abgelehnt, herabgesetzt oder verurteilt – durch Politiker, die sich große Mühe geben, sich stets auf Gott zu berufen und sich selbstgerecht brüstend „auf die Seite der Engel“ zu stellen.

Eine 2002 durch das ‚Pew Forum on Religion and Public Life‘ durchgeführte Umfrage legt nahe, daß 27 Millionen Amerikaner Atheisten oder Agnostiker sind oder keinerlei religiöse Präferenz haben. Gut möglich, daß diese Zahl zu gering ist, da viele Nichtgläubige zögern, zuzugeben, daß ihre religiöse Haltung eher eine bürgerliche oder gesellschaftliche Pflicht ist als eine religiöse – mehr eine schützende Färbung denn Überzeugung.

Die meisten Brights verzichten auf die Rolle des „aggressiven Atheisten“. Wir wollen nicht jede Unterhaltung zu einer Debatte über Religion machen, und wir haben kein Interesse daran, unseren Freunden und Nachbarn auf die Füße zu treten, und entscheiden uns daher für diplomatisches Schweigen.

Aber der Preis ist politische Impotenz. Politiker halten es noch nicht einmal für nötig, uns Lippenbekenntnisse zu geben, und selbst solche, die niemals Religion oder Ethnie verunglimpfen würden, zögern nicht, die „Gottlosen“ unter uns herabzuwürdigen.

Auf allen politischen Ebenen wird ‚Bright-Bashing‘ als risikoarmer Stimmenfänger gesehen. Und dieser Angriff bleibt nicht auf rhetorischer Ebene: Die Bush-Administration tritt für die Änderung von Regeln und Richtlinien ein, die es religiösen Organisationen erlaubt, im täglichen Leben eine immer größere Rolle zu spielen – eine ernste Gefährdung der amerikanischen Verfassung. Es ist Zeit, diese Entwicklung zu stoppen und klar Stellung zu beziehen: die USA sind kein religiöser, sondern ein säkularer Staat, der alle Religionen toleriert und ebenso alle Arten nichtreligiöser ethischer Überzeugungen.

Vor kurzem nahm ich an einer Konferenz in Seattle teil, die viele führende Wissenschaftler, Künstler und Autoren zusammenbrachte, die vor einer Gruppe aufgeweckter Highschool-Schüler offen und ungezwungen über ihr Leben sprachen. Gegen Ende meiner 15 Minuten wagte ich ein kleines Experiment. Ich bekannte mich als ein Bright.

Das kann natürlich kaum überraschend sein für jeden, der meine Arbeit auch nur im Entferntesten kennt. Nichtsdestotrotz war das Ergebnis elektrisierend.

Viele Schüler kamen nach meinem Vortrag zu mir, um mir mit bemerkenswerter Leidenschaft dafür zu danken, dass ich sie „befreit“ hatte. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie einsam und unsicher sich diese nachdenklichen Teenager gefühlt haben mussten. Nie hatten sie einen Erwachsenen ganz sachlich sagen hören, dass er nicht an Gott glaube. Ich hatte ganz ruhig ein Tabu gebrochen und damit gezeigt, wie einfach das ist.

Außerdem inspirierte es viele andere Sprecher, unter ihnen einige Nobelpreisgewinner, auch selbst zu bekennen, dass sie Brights sind. Jedes Mal bekam diese Bemerkung Applaus. Noch erfreulicher waren die Erwachsenen und Schüler, die mir sagten, dass sie zwar keine Brights seien, aber dennoch deren Rechte unterstützten. Und genau darum geht es uns: mit demselben Respekt behandelt zu werden wie Baptisten, Hindus und Katholiken – nicht mehr und nicht weniger.

Wenn Sie ein Bright sind, was können Sie tun? Erstens können wir eine mächtige Kraft im politischen Leben Amerikas sein, allein dadurch, dass wir uns selbst zu erkennen geben. (Die ersten Brights haben eine Homepage, auf der Sie sich als Bright „outen“ können.) Ich sehe ein, dass ein solches Bekenntnis für Akademiker wie mich – oder meinen Kollegen Richard Dawkins, der in England einen ähnlichen Aufruf gestartet hat – sehr viel leichter ist als für manch anderen, für den es negative Folgen haben könnte. Daher bitte: Kein „Outing“.

Aber es gibt keinen Grund, warum nicht alle Amerikaner Bright-Rechte unterstützen könnten. Weder bin ich schwul noch ein Afroamerikaner, aber niemand kann in meiner Gegenwart Schwarze oder Homosexuelle verunglimpfen und damit ungestraft davonkommen. Welche Glaubenslehre auch immer die Ihre ist, sie können widersprechen, wenn in Ihrer Familie oder unter Ihren Freunden Atheisten, Agnostiker oder andere „gottlose Leute“ verspottet werden.

Und Sie können ihre politischen Kandidaten fragen: Würden sie für einen qualifizierten Kandidaten stimmen, der ein Bright ist? Würden sie einen Kandidaten für den Obersten Gerichtshof unterstützen, der ein Bright ist? Sind sie der Meinung, dass Brights Lehrer werden dürfen? Oder Polizeichefs?

Lassen Sie unsere Politiker darüber nachdenken, wie sie auf einen lauter werdenden Chor von Brights reagieren sollen. Mit ein wenig Glück werden wir bald hören, wie sich Politiker mit dem kläglichen Kommentar „einige meiner besten Freunde sind Brights“ herauszureden versuchen.

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Daniel C. Dennett ist Professor für Philosophie an der Tufts University, Massachusetts, USA. Sein aktuelles Buch „Breaking the Spell“ ist ein Versuch, Religion als naturalistisches Phänomen zu verstehen.

Der vorliegende Aufsatz erschien am 12. Juli 2003 in der New York Times.

 


 

II. Geht es überall in der Welt mit rechten Dingen zu? – Gerhard Vollmer

Naturalismus wird hier verstanden als eine naturphilosophisch-anthropologische Position, nach der es überall in der Welt mit rechten Dingen zugeht. Hauptmerkmale des Naturalismus sind sein universeller Anspruch und die Beschränkung der zur Beschreibung und Erklärung der Welt zugelassenen Mittel. Er entwirft ein kosmisches Gesamtbild, in dem auch dem Menschen ein bestimmter (im Ergebnis eher bescheidener) Platz zugewiesen wird. Dabei bezieht er alle Fähigkeiten des Menschen ein, auch Sprechen, Erkennen, wissenschaftliches Forschen, moralisches Handeln, ästhetisches Urteilen. Der moderne Naturalismus ist ein evolutionärer Naturalismus, wonach alle komplizierten Systeme aus einfacheren Teilen be- und entstehen. In dem Beitrag werden die wichtigsten Thesen des Naturalismus formuliert und erläutert. Zuletzt wird erläutert, wie der Autor selbst zum Naturalismus steht.

Streiten kann man über vieles: über die Bedeutung von Begriffen, die Wahrheit von Sätzen, die Geltung von Normen und Werten. Um aber überhaupt streiten zu können, muss man auch über einiges einig sein: Man braucht eine gemeinsame Sprache; man muss den Sinn von Behauptungen, Fragen, Vorschriften verstehen, wenigstens soweit sie für die Diskussion wichtig sind; man sollte wissen, dass es sich um einen Streit handelt. (Freilich brauchen nicht alle Parteien den Streit zu wollen; man kann auch gegen seinen Willen in einen Streit verwickelt werden.) Für einen sinnvollen Streit sollte man sich zudem einig sein, worüber man eigentlich streitet, welche Mittel zum Streiten zugelassen sind und wie sie eingesetzt werden dürfen. Bestimmte Symmetrieprinzipien sollten anerkannt sein. (Ob sie tatsächlich befolgt werden, ist eine andere Frage.)

Schließlich sollten beide Seiten sich einigen können, ob ein Streitpunkt geklärt ist. Natürlich kann man sich auch über all dieses noch einmal streiten: In der Hierarchie von Streitebenen gibt es keine oberste oder letzte Ebene. Aber je höher man steigt, desto grundsätzlicher wird der Streit, und desto geringer werden die Gemeinsamkeiten. Als Wissenschaftler streiten wir in erster Linie über Sachfragen, in zweiter Linie auch über Verfahrensfragen; in beiden Fällen setzen wir aber doch vieles unbefragt und „unbestritten“ voraus. Als Philosophen dagegen hinterfragen wir auch und gerade solche Voraussetzungen: Wir machen sie uns bewusst, stellen sie in Frage, sammeln Argumente dafür und dagegen, suchen Alternativen, formulieren Kriterien, verweisen auf Lücken, Zirkel, Widersprüche. Und natürlich können wir selbst diese Tätigkeiten noch einmal hinterfragen. Insbesondere fragen wir gerne nach den Bedingungen dafür, dass etwas möglich ist, auch nach den Bedingungen für unser Sprechen, Fragen, Schließen, Diskutieren, Streiten.

Von Philosophen besonders viel diskutiert wird die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Wahrnehmen, Erfahren, Erkennen möglich werden. Sie heißt nach Kant die transzendentale Frage. Kants Fragestellung ist fruchtbar, auch wenn seine Antwort nicht allen einleuchtet. Sie wird aber auch erweitert und auf andere menschliche Fähigkeiten und Aktivitäten ausgedehnt, insbesondere auf wissenschaftliches Arbeiten.

Bei dem, was Wissenschaftler gewöhnlich voraussetzen, um arbeiten, forschen (und streiten) zu können, spricht man gerne von Hintergrundannahmen, von Weltbild, von forschungsleitenden Paradigmen, von metaphysischen Grundentscheidungen. Über sie wird im wissenschaftlichen Alltag selten diskutiert, kaum nachgedacht, allenfalls am Wochenende „philosophiert“. Im Sinne der Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften ist dies auch völlig legitim: Weder auf Reisen noch in der Forschung kommt man voran, wenn man sich zu oft umwendet und zum Ausgangspunkt zurückblickt. Ist man jedoch in einer Sackgasse gelandet, so kann es nützlich sein, zum Startpunkt zurückzukehren, sich neu zu orientieren, eine andere Richtung einzuschlagen, vielleicht sogar einen neuen Ausgangspunkt zu wählen. Dann profitieren viele davon, dass Philosophen solche Überlegungen längst angestellt haben. In diesem Sinne ist Philosophieren immer auch Denken auf Vorrat.

Auch die Diskussion über den Naturalismus ist keine innerwissenschaftliche, sondern eine philosophische. Zwar sind viele Naturwissenschaftler Naturalisten (in einem Sinne, den wir noch erläutern müssen); aber den meisten ist dieser Begriff nicht einmal geläufig, und sie wären auch kaum in der Lage, ihre Position genauer zu charakterisieren oder argumentativ zu verteidigen. (Mit den Anti- Naturalisten steht es kaum besser, selbst wenn sie Philosophie aus dem Begleitstudium kennen, vielleicht sogar schätzen.) Wer wissen möchte, ob der Naturalismus vertretbar ist, begibt sich nicht ins Labor: Es handelt sich dabei nicht um eine empirisch entscheidbare Frage, auch wenn Erfahrungstatsachen in dieser Diskussion eine wichtige, vielleicht sogar ausschlaggebende Rolle spielen können.

Im folgenden wollen wir möglichst deutlich sagen, was wir unter Naturalismus verstehen. Wir tun das, indem wir – nach einer groben Charakterisierung in 2 – die wichtigsten Thesen des Naturalismus formulieren und erläutern.

2. Zwei wichtige Merkmale: Universalität und Mittelbeschränkung

Den Naturalismus verstehen wir hier als eine naturphilosophisch-anthropologische Position. Am kürzesten lässt sie sich charakterisieren durch die These, überall in der Welt gehe es mit rechten Dingen zu.1 Diese Auffassung zeichnet sich demnach durch zwei wichtige Merkmale aus: durch ihren universellen Anspruch und durch die Beschränkung der Mittel, die zur Beschreibung und Erklärung der Welt zugelassen werden.

Dabei ist uns bewusst, dass ‚Naturalismus‘ in anderen Zusammenhängen auch anders verstanden werden kann, etwa wenn in der Kunst von Naturalismus die Rede ist (wobei es vor allem um Naturnachahmung geht), oder wenn Charles Darwin über seine Weltreise mit der Beagle unter dem Titel A Naturalist’s Voyage berichtet (wobei er offenbar nichts weiter als ein Naturforscher sein will), wenn Karl Popper von naturalistischen Richtungen in den Sozialwissenschaften spricht (soweit sie die Anwendung physikalischer Methoden befürworten), oder auch wenn in der Ethik von Naturalismus gesprochen wird (in einem Sinne, wonach Normen und Werte in der Natur „da draußen“ auffindbar oder aus auffindbaren Fakten gewinnbar sein sollen, was der hier von uns explizierte Naturalismus gerade bestreitet).

Der erwähnte Universalitätsanspruch des Naturalismus ist durchaus wesentlich. Selbst Kant lässt sich unwidersprochen, wenn nicht sogar gerne, einen Naturalisten „von eigener Art“ nennen, fordert er doch, dass in der Naturwissenschaft alles natürlich – und nicht etwa in einer theologischen Sprache – formuliert und erklärt werden müsse.2 Doch sieht er darin zugleich eine Grenze der Naturwissenschaft: Zur Erklärung organisierter Wesen, insbesondere der Zweckmäßigkeit organismischer Strukturen, müssten jedenfalls teleologische Erklärungsmuster herangezogen werden; ein Newton des Grashalms sei schlechterdings unmöglich. Kant ist also eigentlich nur in der Physik Naturalist, in der Biologie schon nicht mehr (und in Psychologie, Erkenntnistheorie und Ethik erst recht nicht). Hier ist der moderne Naturalismus anspruchsvoller: Die unverkennbare Zweckmäßigkeit organismischer Strukturen erklärt er über das Prinzip der natürlichen Auslese und damit letztlich doch über ein kausal wirksames Prinzip. Ein Newton des Grashalms ist danach möglich; ob Charles Darwin schon der ganze Newton war oder ob dazu erst noch Gregor Mendel, Ronald Fisher, Julian Huxley, Ernst Mayr, Manfred Eigen und andere gebraucht werden, ist eine wissenschaftshistorische und für unser Problem eher zweitrangige Frage. Entscheidend ist, dass mit Darwins Selektionstheorie auch die Lebewesen und damit die gesamte Biologie in den naturalistischen Erklärungsrahmen einbezogen sind, so dass teleologische Erklärungen dort entbehrlich werden und die teleologischen Gottesbeweise nach Thomas von Aquin oder William Paley ihre Überzeugungskraft verlieren.

Der Verzicht auf Teleologie ist seinerseits ein typisches Beispiel für das zweite Merkmal des Naturalismus, für die programmatische Mittelbeschränkung. Nicht dass bestimmte Beschreibungs- und Erklärungsmittel von vornherein verboten wären; leitend ist vielmehr ein Sparsamkeitsprinzip, nach dem unter konkurrierenden und sonst gleichwertigen Hypothesen, Theorien, Modellen, Denksystemen die jeweils sparsameren, einfacheren, elementareren bevorzugt werden (sollen). Ob man dieses Prinzip nach Wilhelm von Ockham („Occam´s razor“) benennt oder nach Ernst Mach („Denkökonomie“), ist dabei zweitrangig. Entscheidend ist, dass man es als Auswahlprinzip und als Argument akzeptiert. Der erwähnte Universalitätsanspruch des Naturalismus ist natürlich mit diesem Prinzip verträglich, auch wenn er nicht zwingend daraus folgt.

Nun ist die Redeweise, überall gehe es mit rechten Dingen zu, noch nicht besonders präzise. Wir wollen den Naturalismus deshalb genauer fassen, indem wir zunächst sein Programm vorstellen.

Dieses Programm besteht aus mindestens vier Teilen:

    • – Er fordert und entwirft ein kosmisches Gesamtbild, ein „Weltbild“.- Er schreibt auch dem Menschen einen bestimmten Platz im Universum zu.
  • Er bezieht dabei alle Fähigkeiten des Menschen in seine Erklärungsansprüche und -ansätze ein,

auch Sprechen, Erkennen, wissenschaftliches Forschen, moralisches Handeln, ästhetisches Urteilen.

  • Er fordert und entwickelt auf dieser Grundlage insbesondere
  • eine naturalistische Anthropologie,

  • eine naturalistische Erkenntnistheorie,

  • eine naturalistische Methodologie der Forschung,

  • eine naturalistische Ethik,

  • eine naturalistische Ästhetik.

Im Rahmen dieses Programms vertritt der Naturalismus Thesen inhaltlicher und methodologischer Art.

3. Thesen des Naturalismus

a) Nur soviel Metaphysik wie nötig!

Die Meinungen über die Metaphysik gehen weit auseinander. Die traditionelle Philosophie war eher metaphysikfreundlich. Den „sicheren Gang einer Wissenschaft“ vermochten jedoch auch Immanuel Kant, Heinrich Scholz oder Mario Bunge ihr nicht zu verschaffen. Positivismus, Instrumentalismus, Pragmatismus, logischer Empirismus und Wiener Kreis waren dagegen ausgesprochen metaphysikfeindlich. Es hat sich aber gezeigt, dass wir ohne metaphysische Annahmen nicht auskommen, auch nicht in der Wissenschaft. Der kritische Rationalismus lehnt Metaphysik deshalb nicht völlig ab, hält sie auch nicht für minderwertig, sucht sie aber von der Erfahrungswissenschaft abzugrenzen, etwa über Poppers Falsifizierbarkeitsforderung: „Eine empirisch-wissenschaftliche Theorie muss an der Erfahrung scheitern können.“ Abgrenzen bedeutet jedenfalls nicht Abschaffen, wie man Popper gelegentlich unterstellt. Wie viel Metaphysik sollen wir dann zulassen? Die naturalistische Antwort ist eindeutig: nur soviel Metaphysik wie nötig – nötig für die Forschung, für den Erkenntnisfortschritt, fürs Leben. Der Naturalist sucht also eine Art Minimalmetaphysik.4 Dazu gehört die Annahme einer bewusstseinsunabhängigen, strukturierten, zusammenhängenden Welt (vgl. b, d, f, g, l) und deren partielle Erkennbarkeit durch Wahrnehmung, Erfahrung und eine intersubjektive Wissenschaft (vgl. c, h, i, k). Diese Auffassung heißt auch „hypothetischer Realismus“. Sind solche metaphysischen Voraussetzungen auch nicht empirisch prüfbar (weil man alles Erleben als eine Art Traum deuten kann), so sind sie doch kritisierbar, etwa im Hinblick auf Widerspruchsfreiheit, Erklärungswert, Selbstanwendbarkeit, Willkürfreiheit, Denkökonomie, Fruchtbarkeit.

Und sind sie kritisierbar, so kann es auch gute Gründe geben, sie zurückzunehmen und durch andere zu ersetzen. Auch die Minimalmetaphysik des Naturalisten gehört also – gelegentlich – auf den Prüfstand rationaler Kritik. Der Zweifel ist hier – wie bei Descartes – Methode, nicht existentielle Gestimmtheit. Zwar ist nichts unhintergehbar, nicht der eigene Standpunkt, nicht unsere minimalen metaphysischen Voraussetzungen, auch nicht die Sprache, in der wir das alles formulieren, nicht einmal die eigenen Fragen, die eigenen Zweifel. Das heißt jedoch nicht, dass der Naturalist alles in der Schwebe ließe. Natürlich hat auch der Naturalist Überzeugungen, Gewissheiten, Evidenzen; aber er ist sich eben auch ihres fehlbaren Charakters bewusst.

Bei der Betrachtung einer solchen Minimalmetaphysik lassen sich zwei Gesichtspunkte unterscheiden: Wie findet man sie? Und welche Rolle spielt sie? Man findet sie durch Analyse, durch Reflexion auf die Voraussetzungen unseres Denkens und Tuns. Diese Analyse ist eine typisch philosophische Tätigkeit. Sie untersucht unseren Sprachgebrauch, Leistungen und Fehlleistungen unserer Wahrnehmung und unserer Erfahrung, aber auch wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse. Die Rolle unserer Minimalmetaphysik liegt darin, dass sie unser Denken und Handeln leitet. Ganz ohne solche erkenntnis- und handlungsleitenden Annahmen und Maximen kommen wir einfach nicht aus; „auf dem kahlen Zweifel wachsen keine Gründe“ (Bertrand Russell). Der Umfang unserer Minimalmetaphysik richtet sich also auch danach, was wir wissen möchten und tun wollen.

b) Soviel Realismus wie möglich!

Argumentativ kann man niemanden zum Realismus zwingen. Noch der radikalste Solipsist, der nur sein augenblickliches Bewusstsein für existent hält, ist unwiderlegbar. Seine Position ist zwar unplausibel, aber, wenn sie umsichtig formuliert ist, zirkel- und widerspruchsfrei, konsequent und bescheiden. Deshalb vergleicht Schopenhauer den Solipsisten treffend mit einem Irren in einem uneinnehmbaren Blockhaus. Für den Realismus sprechen jedoch gute Gründe.5 Freilich sind sie weder logischer noch empirischer noch rein historischer, sondern metatheoretischer Natur. Im Gegensatz zu anderen Positionen kann der Realist insbesondere folgende Fragen beantworten. Warum gehen nicht alle unsere Wünsche in Erfüllung? Warum gelingt uns nicht alles, was wir anstreben? Woran scheitern wissenschaftliche Theorien? (Der Realist: weil die Welt anders ist, als wir erhoffen, vermuten, erwarten.) Warum liefern unabhängige Messmethoden für Naturkonstanten dieselben Werte? Warum scheinen solche Werte sich einem Grenzwert zu nähern? Warum erweist sich von konkurrierenden Theorien in der Regel eine als allen anderen überlegen? (Diese Konvergenz der Forschung erklärt der Realist durch die Einzigkeit der von uns untersuchten realen Welt.) Warum ist unsere Suche nach Invarianten, etwa nach Naturkonstanten, allgemeinen Naturgesetzen oder Erhaltungsgrößen, so erfolgreich? (Für den Realisten sind gerade solche Invarianzen Hinweise auf die Objektivität von Erkenntnissen, also auf ihren Wirklichkeitsbezug und ihre Unabhängigkeit vom erkennenden Subjekt.)

Nun gibt es viele Varianten des Realismus: naiver, kritischer, hypothetischer, wissenschaftlicher, konvergenter, interner Realismus. Doch sind nicht alle diese Varianten haltbar. Der naive Realismus („Die Welt ist so, wie sie mir erscheint.“) wird schon durch die Möglichkeit des Irrtums, insbesondere durch die Existenz einander widersprechender Sinneseindrücke widerlegt. Aber auch die klassisch-realistische Auffassung („Alle Eigenschaften kommen den Dingen unabhängig von aller Wechselwirkung, insbesondere von aller Beobachtung, zu oder nicht zu.“) ist durch die moderne Quantenphysik in Frage gestellt. Ob andererseits der interne Realismus („Wirklich ist, worauf sich eine fiktive (!) endgültige Weltbeschreibung erfolgreich bezieht.“) überhaupt noch ein Realismus ist, also noch genügend realistische Substanz hat, ist zumindest zweifelhaft.

Angesichts des verbleibenden Spektrums an Realismen optiert der Naturalist für soviel Realismus wie möglich. Realist ist er schon deshalb, weil er zwar eine Welt ohne Mensch, aber keinen Menschen (und auch keinen menschlichen Geist) ohne reale Welt für möglich hält. Raum, Zeit, Materie und Evolution sind für ihn also real, wirklich, bewusstseinsunabhängig (wohl aber durch das Bewusstsein erfassbar). Er optiert damit auch für soviel Objektivität wie möglich, für Subjektivität dagegen nur soviel wie nötig.

Es könnte scheinen, als ob dieser Maximalrealismus über unsere Minimalmetaphysik unnötig weit hinausginge. Das ist jedoch nicht der Fall: Wir brauchen diesen Realismus, um die Erfahrungen des Alltags, den Verlauf der Evolution und den Gang der Wissenschaften zu erklären. Nur wer hier keinerlei Erklärungsbedürfnis hat, kann auf den Realismus verzichten.

c) Bei der Erforschung der Natur ist die erfahrungswissenschaftliche Methode allen anderen überlegen.

Die erfahrungswissenschaftliche Methode lebt von dem Wechselspiel zwischen Theorie und Erfahrung. Da von der unmittelbaren Erfahrung kein direkter Weg zur Theorie führt, sind wir auf Versuch und Irrtumsbeseitigung angewiesen. Für das Versuchen, also für das Finden beschreibender, erklärender und prädiktiver Hypothesen, sind letztlich alle Mittel erlaubt: Intuition, Assoziation, Analogien, Kreativitätstechniken, Brainstorming, Träume, Visionen, Spekulationen. Da jedoch der Irrtum die Regel, die Wahrheit dagegen die Ausnahme ist, müssen die Hypothesen einer strengen Kritik unterzogen werden. Soweit möglich, werden sie dazu an der Erfahrung überprüft; dem dienen Beobachtungen, Messungen und gezielte Experimente. Werden dabei Irrtümer entdeckt, so wird man versuchen, sie zu beseitigen.

Besonders bewährt hat sich diese Methode in den Naturwissenschaften; in der hier skizzierten Weise ist sie jedoch in allen Erfahrungswissenschaften anwendbar. Darüber hinaus hat dann jede Disziplin methodische Besonderheiten, die sie nicht mit den anderen Disziplinen teilt, weil sie auf ihre speziellen Forschungsgegenstände zugeschnitten sind. Wegen des großen Erfolges spezieller naturwissenschaftlicher Methoden neigen viele dazu, diese auf alle anderen Disziplinen zu übertragen. Heuristisch ist ein solcher Versuch völlig legitim; aber eine Garantie für die universelle Anwendbarkeit jener Methoden besteht natürlich nicht. Auch hier – in methodologischen Fragen – wird man also aus gelungenen und misslungenen Versuchen lernen; in diesem Sinne ist das Verfahren von Versuch und Irrtumsbeseitigung selbstanwendbar.

Manchmal wird der Naturalismus sogar charakterisiert über die Forderung, überall dürften nur naturwissenschaftliche Methoden angewandt werden. Ein solcher Szientismus wäre offenbar recht dogmatisch. Den Prinzipien des kritischen Rationalismus würde er damit ausdrücklich widersprechen.

Aber auch der Naturalismus ist auf eine solche imperialistische Haltung weder festgelegt noch angewiesen; er selbst ist zwar vielleicht Voraussetzung, aber doch nicht Ergebnis der naturwissenschaftlichen Methode, selbst wenn diese Ergebnisse ihn bestätigen und insofern auch stützen. Gerade die Voraussetzungen des eigenen Tuns, insbesondere dessen, was Naturwissenschaftler tun, werden ja nicht im Labor, nicht im Experiment, nicht durch Beobachtung ausfindig gemacht. Fortwährendes Hinterfragen, kritisches Reflektieren der eigenen Voraussetzungen, seien sie metaphysischer, methodischer oder moralischer Natur, Denken auf Vorrat in diesem metatheoretischen Sinne ist eben nicht Sache der Einzelwissenschaften, sondern der Philosophie. (Was nicht ausschließt, dass auch Einzelwissenschaftler gelegentlich – und vielleicht sogar besonders erfolgreich – philosophieren.)

Entscheidendes Kriterium für philosophische, insbesondere für metatheoretische Positionen ist nicht ihre empirische Prüfbarkeit (oder gar Falsifizierbarkeit), sondern ihre Kritisierbarkeit. Da die empirische Prüfung faktischer Aussagen eine besonders strenge Form der Kritik darstellt, wird man sie überall dort einsetzen, wo sie tatsächlich anwendbar ist. Wo das nicht der Fall ist, da wird man sich auch anderer Methoden bedienen. Die Überlegenheit der erfahrungswissenschaftlichen Methode beruht also auf der Schärfe ihrer kritischen Instrumente; doch begründet diese Schärfe keinen Ausschließlichkeitsanspruch.

Selbst wenn also für den Naturalisten alles, was es gibt, zur Natur gehört, auch der Mensch, auch Denken und Erkennen, auch moralisches und ästhetisches Empfinden und Urteilen, wird für ihn doch nicht alles zum Gegenstand der Naturwissenschaft. Dieses scheinbare Paradoxon beruht nur darauf, dass das Wort ‚Natur‘ allein stehend eine weitere Bedeutung hat als in der Wortverbindung ‚Naturwissenschaft‘. Obwohl sich der Objektbereich der Naturwissenschaften durch Verhaltensforschung, Neurobiologie und eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Psychologie wesentlich erweitert hat und zudem viele Grenzen unscharf geworden sind, wird man doch nicht behaupten wollen, dadurch seien alle Erfahrungswissenschaften, auch die Geistes- und Sozialwissenschaften, zu Naturwissenschaften geworden. Mit Natur im Sinne des Naturalismus befassen sich eben nicht nur die Naturwissenschaften, und das wird auch niemals der Fall sein. In einer Hierarchie jedoch, in der Wissenschaften auf anderen aufbauen, stehen die Naturwissenschaften ganz unten, und die Physik bildet dort das Fundament. Dass es eine solche Hierarchie überhaupt gibt, wird jedem einleuchten. Der Naturalist macht jedoch zusätzlich den Versuch, Methoden und Ergebnisse tieferer Hierarchiestufen für ein besseres Verständnis höherer zu nutzen. Die Frage nach der tiefsten Schicht führt uns dann zum nächsten Punkt.

d) Die Natur (die Welt, der Kosmos, das Universum, das Reale) ist primär materiellenergetisch, und zwar sowohl in zeitlicher als auch in kausaler Hinsicht.

Eine Alternative (die der Naturalismus verneint) wäre etwa die Behauptung, die Welt sei primär spirituell, ideell, geistig. Vor der Alternative Materialismus-Spiritualismus neigt der Naturalist also zum Materialismus, wenn auch nicht in jeder von dessen Formen. Insbesondere ging der klassische Materialismus von der Behauptung aus, alles Reale sei materiell. Mit Clerk Maxwell hat sich die Physik jedoch zu der Einsicht durchgerungen, dass es sinnvoll ist, auch Feldern, Wellen, Strahlen, Realität zuzuschreiben. Spricht man hier überhaupt von Teilchen (etwa von Lichtteilchen, Lichtquanten oder Photonen), so handelt es sich um Teilchen ohne Ruhemasse. Solche Systeme lassen sich nicht durch ihre Masse, wohl aber durch ihre Energie charakterisieren. Deshalb benützen wir den komplizierteren Ausdruck ‚Materie-Energie‘.

Die Existenz geistiger, insbesondere mentaler Phänomene (Zustände und Prozesse) wird dabei keineswegs geleugnet. Sie werden jedoch als Zustände und Prozesse an realen, also materiellenergetischen Systemen, insbesondere an Zentralnervensystemen ausreichender Komplexität angesehen. Körperlose mentale Zustände und Prozesse gibt es dann nicht. (Es kann jedoch zweckmäßig sein, so zu reden, als ob es solche körperlosen mentalen Phänomene gäbe, nämlich dann, wenn das materiale Substrat für die diskutierte Frage keine Rolle spielt.)

Von einem Primat der Materie-Energie gegenüber anderen „Dingen“, insbesondere gegenüber Mentalem (oder Geistigem) zu sprechen, bedeutet zweierlei: Erstens kann es materiellenergetische Systeme ohne mentale Eigenschaften geben. Zweitens gibt es keine mentalen Phänome ohne materiell-energetische Grundlage. Mit der Feststellung, dass es tatsächlich Systeme ohne mentale Eigenschaften gegeben hat, kommen wir dann bereits zur nächsten These.

e) Alle realen Systeme – einschließlich des Kosmos als Ganzen – unterliegen der Entwicklung, der Evolution, dem Auf- und Abbau, dem Werden und Vergehen.

Der moderne Naturalismus ist somit ein evolutionärer Naturalismus.6 Jede Entwicklung kann einen Anfang und ein Ende haben; sie kann – nach zu wählenden Maßstäben – aufwärts oder abwärts führen. Sie könnte sogar zeitweise stagnieren; aber das kommt in unserem Universum kaum vor.

Es ist auch denkbar, dass die kosmische Evolution, die wir beobachten (und deren Zwischenergebnis wir sind), nur Teil eines gigantischen Zyklus ist, der wieder zum Ausgangspunkt zurückführt. Unser Universum könnte – im Sinne einer ewigen Wiederkehr – viele, sogar unendlich viele ähnliche oder gleiche Zyklen durchlaufen. Allerdings spricht nichts dafür, dass es so ist: Über die Zeit vor dem Urknall und über die Zeit nach dem (möglichen) Endknall wissen wir – einmal vorausgesetzt, diese Redeweisen seien tatsächlich sinnvoll – so gut wie nichts, auch nichts über die Existenz, Zahl und Art solcher Zyklen.

Das Stichwort ´Evolution´ wird heute reichlich, geradezu inflationär gebraucht. Diese ausufernde Verwendung führt leicht zu Begriffsunschärfen, zu Mehrdeutigkeiten, zu Missbrauch. Manchmal meint man mit ´Evolution´ nur biologische Evolution; dann geht es „nur“ um biologische Verwandtschaft, um die Entstehung organismischer Arten aus anderen, um Stammbäume, um die Faktoren und Gesetze des Artenwandels. Von der Entstehung des Lebens, der Biogenese, ist dabei noch gar nicht die Rede, und selbst die Entstehung des Menschen, die Anthropogenese, muss dabei nicht unbedingt erwähnt werden. Auch Darwin behandelt in seinem Hauptwerk Der Ursprung der Arten von 1859 weder die Lebensentstehung noch die Entstehung des Menschen. Für eine Theorie der Biogenese schien ihm die Zeit auch später noch nicht reif. Und sein Buch Die Abstammung des Menschen erschien erst 1871; zu diesem Zeitpunkt waren viele seiner Gedanken bereits von anderen vorweggenommen worden.

Und doch liegt es nahe, die Anwendbarkeit des Evolutionsgedankens auf weitere Systeme zu prüfen, den Evolutionsbegriff und die Evolutionstheorie also „nach unten“ und „nach oben“ auszudehnen. Mit diesem Versuch sind die Natur- und die Sozialwissenschaften in unserem Jahrhundert sehr erfolgreich gewesen; man spricht heute mit Recht von universeller Evolution, von einem evolutionären Paradigma in einem sehr allgemeinen Sinne. Die Tragfähigkeit der Begriffe und Gesetze der biologischen Evolutionstheorie ist dabei in jedem Falle, also für jedes System und für jede Phase der kosmischen Evolution, eigens zu untersuchen; selbstverständlich ist sie nicht.

Theorien der Selbstorganisation versuchen dabei – und das ist auch ihre Aufgabe -, genauer zu sagen, was Evolutionsprozesse besonders auszeichnet, was verschiedene Evolutionsphasen gemeinsam haben und was sie doch unterscheidet. Im Begriff ´Selbstorganisation´ steckt dabei offenbar wieder der Anspruch, die Bildung von Gestalten, von komplexen Strukturen, von Mustern „von unten“ zu erklären. Es handelt sich also um weitere Schritte zur Verwirklichung des naturalistischen Programms.

Wie zu erwarten war, erwies sich die Ausdehnung des evolutionären Paradigmas nach unten als weniger problematisch als die nach oben. Zwar ist die Entstehung des Lebens bei weitem nicht vollständig durchschaut, verstanden oder erklärt; es herrscht aber weitgehend Übereinstimmung, dass sie auf der Erde und „von selbst“, also unter den damals – vor vier Milliarden Jahren – herrschenden Bedingungen und gemäß den uns bekannten Naturgesetzen erfolgen konnte und tatsächlich erfolgt ist, dass es also dabei im naturalistischen Sinne „mit rechten Dingen“ zuging. Auch die evolutive Entstehung des Menschen als einer von vielen biologischen Arten ist allgemein anerkannt, selbst wenn hier – gemessen jedenfalls an unserem übergroßen „persönlichen“ Interesse – ebenfalls noch schmerzlich viele Details unbekannt oder unklar sind.

Ganz anders sieht es aus, wenn es um die höheren Fähigkeiten und Leistungen des Menschen geht: Erkennen, Sprechen, moralisches Verhalten, ästhetisches Urteilen. Hier stehen sich denn auch viele unterschiedliche Positionen unvereinbar gegenüber. Nach naturalistischer Auffassung ist das evolutionäre Paradigma, ist der Erklärungsansatz „von unten“ auch hier nicht nur möglich und sinnvoll, sondern durchaus erfolgreich. Verhaltensforschung, Soziobiologie, Neurobiologie, Bio- und Psycholinguistik, Künstliche Intelligenz und andere Disziplinen tragen dazu Forschungsergebnisse bei. Ihre Befunde lassen dann aber auch jene philosophischen Disziplinen nicht unberührt, die sich traditionell mit solchen typisch menschlichen Fähigkeiten befassen: Anthropologie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Moralphilosophie und Ethik, Ästhetik.

Der Evolutionsgedanke verbindet viele wissenschaftliche Disziplinen miteinander: Indem er dazu anregt, die Entwicklung verschiedener Systeme als Teile oder Phasen einer universellen Evolution anzusehen und einzuordnen, trägt er zur Einheit der Wissenschaft bei (vgl. 3 l.7)

f) Komplizierte Systeme be- und entstehen aus einfacheren Teilsystemen.

Die Evolution hat nicht mit komplexen Systemen oder einem besonders komplizierten Supersystem begonnen, die nun allmählich zerfallen und dabei mehr und mehr Eigenschaften verlieren. (Diese Idee wurde in Hinblick auf die Lebewesen zeitweise vertreten.) Es ist genau umgekehrt: Die komplizierteren Systeme entstehen später und zeigen Eigenschaften, die keines der Teilsysteme je besaß. Dieses Auftreten neuer Systemeigenschaften nennen wir Emergenz.8 Wenn komplizierte Systeme aus einfachen entstehen, dann liegt der Versuch nahe, die emergenten Eigenschaften aus denen der Teilsysteme zu erklären, erstere auf letztere zurückzuführen, zu reduzieren. Für den Naturalisten, der ja die ontische Emergenz behauptet, ist dieses Evolutionsargument das wohl stärkste Argument zugunsten eines epistemischen Reduktionismus.9 Diese Strategie war bisher in vielen, jedoch keineswegs in allen Bereichen erfolgreich; deshalb verdienen gerade die Hindernisse besondere Aufmerksamkeit. Der Naturalist steht also dem Reduktionismus nahe, ohne unauflöslich an ihn gebunden zu sein. Sind die realen Systeme immer weiter teilbar, oder gibt es eine untere Grenze der Teilbarkeit? Eine endgültige Antwort auf diese Frage wird es nie geben; denn wir können nicht herausfinden, ob unsere Unfähigkeit, Elementarbausteine weiter zu zerlegen, prinzipielle oder nur praktische Gründe hat. Zur Zeit spricht jedoch nichts dagegen, Quarks und Leptonen als unstrukturiert, als punktförmig und somit auch als unteilbar anzusehen.

g) Die reale Welt ist zusammenhängend und quasi-kontinuierlich.

Von Kontinuität kann man in vielen Hinsichten sprechen. Zunächst einmal sind Raum und Zeit kontinuierliche Parameter, die sich bei der Beschreibung der Welt hervorragend bewährt haben. Auch die realen Systeme, die wir kennen, hängen miteinander zusammen. Dass wir keine völlig isolierten Systeme finden, ist allerdings nicht verwunderlich; denn gerade sie könnten ja auch nicht mit uns als Beobachtern wechselwirken, auch nicht indirekt, so dass wir von ihnen schlechterdings nichts erfahren können. Die Existenz isolierter Objekte kann man also risikolos behaupten oder bestreiten; eine Widerlegung ist in keinem der beiden Fälle zu befürchten. Aus Sparsamkeitsgründen nimmt der Naturalist jedoch eine räumlich und zeitlich zusammenhängende Welt an.

Aber die Prozesse, mit denen wir zu tun haben, könnten durchaus sprunghaft verlaufen. Tatsächlich scheint es auf den ersten Blick viele Diskontinuitäten zu geben: Quantensprünge, Mutationen, Phasenübergänge, Bekehrungserlebnisse, Katastrophen, Revolutionen. In den meisten Fällen kommt es jedoch nur auf die Auflösung an, mit der man einen Vorgang betrachtet. Aus der Nähe erweisen sich dann auch vermeintlich sprunghafte Vorgänge zwar als überdurchschnittlich schnell, aber doch als stetig. Für die Quantenereignisse scheint dies jedoch nicht zu gelten. Sie bringen ein unstetiges Element in unsere Welt; mit Rücksicht darauf spricht der Naturalist nur von Quasi- Kontinuität.

h) Instanzen, die alle menschliche Erfahrung übersteigen, sind zwar denkbar, für die Betrachtung, Beschreibung, Erklärung und Deutung der Welt jedoch entbehrlich.

Beispiele für solche Instanzen, Ebenen, Wesen, Kräfte finden sich in vielen Mythen, in Religionen, Geheimlehren, esoterischen Strömungen, Para- und Pseudowissenschaften. Die Existenz solcher transzendenter Instanzen ist nicht widerlegbar. Aber daraus folgt natürlich nicht, dass es sie gibt (sowenig wie aus ihrer Unbeweisbarkeit folgt, dass es sie nicht gibt).

Müsste man die Existenzfrage dann nicht ganz offen lassen? Wieder ist es – wie schon in g – ein Sparsamkeits- oder Ökonomieprinzip, das die Symmetrie bricht: Der Naturalist geht davon aus, dass es solche Instanzen nicht gibt. Er ist also insbesondere hinsichtlich der Existenz eines persönlichen Gottes Agnostiker, wenn nicht sogar Atheist.10 Ähnliches gilt für ein Weiterleben nach dem Tode.

Warum aber sollten wir einem solchen Sparsamkeits- oder Einfachheitsprinzip folgen? Viele Wissenschaftler, insbesondere Albert Einstein oder Paul A.M. Dirac geben dafür ästhetische Gründe an und sprechen gerne von der Eleganz, sogar von der Schönheit einer sparsamen Theorie. Die Bevorzugung einfacher Hypothesen gegenüber komplizierten ist aber nicht nur eine Frage des Wohlgefallens. Vor allem Popper betont, dass auch methodologische Gründe eine solche Wahl nahelegen: Die einfachere von zwei Hypothesen ist auch die leichter prüfbare (bei Popper: falsifizierbare11); sie ist, falls sie falsch ist, leichter als falsch zu erkennen und deshalb schneller durch eine andere zu ersetzen. Deshalb ist der Naturalist zunächst Monist, Atheist, Determinist, Physikalist, Reduktionist, bis starke Argumente solche Positionen eben doch als zu einfach erscheinen lassen. Denkbare Argumente dieser Art kommen im folgenden zur Sprache.

i) Wunder gibt es nicht.

Was sind Wunder? Auf diese Frage gibt es zwei verschiedene Antworten. Es liegt nahe, Wunder als Ereignisse zu definieren, die gegen Naturgesetze verstoßen. Naturgesetze sind dabei ausnahmslose Regelmäßigkeiten im Verhalten realer Systeme. Aber wenn nicht alle einschlägigen Systeme sich so verhalten, wie das vermeintliche Naturgesetz sagt, dann handelt es sich eben nicht um eine strenge Regelmäßigkeit und somit nicht um ein Naturgesetz. Nach dieser Explikation sind Wunder also schon definitorisch ausgeschlossen. Die Behauptung, es gäbe keine Wunder, ist dann zwar wahr, aber eben nur analytisch wahr. Intuitiv verstehen wir jedoch Aussagen über die Möglichkeit oder über die Tatsächlichkeit von Wundern als synthetische Aussagen, die nicht schon allein aus sprachlichen Gründen wahr oder falsch sind. Wir definieren deshalb Wunder als Ereignisse, die eine strenge kosmische Ordnung durch das Wirken einer außerweltlichen Instanz durchbrechen.12 Für diesen Begriff von Wunder sind also vier Elemente wesentlich:

  • das Bestehen einer kosmischen Ordnung,
  • der Verstoß gegen letztere,

  • die Seltenheit, der Ausnahmecharakter solcher Verstöße,

  • die aktive Beteiligung einer außerweltlichen Instanz.

Man könnte meinen, dass die zuvor behauptete Nichtexistenz transzendenter Mächte Wunder automatisch ausschließe. Das ist jedoch nicht ganz richtig. Außerweltliche Instanzen könnten ja gerade dadurch erfahrbar werden, dass sie spürbar Wunder tun; dann wären sie gerade nicht jenseits aller Erfahrung, nicht transzendent im strengen Sinne. Der Naturalist bestreitet also beides: die Existenz transzendenter Instanzen und das gelegentliche Eingreifen außerweltlicher Instanzen in das Naturgeschehen. Ein überzeugender Nachweis von Wundern würde somit den Naturalismus wirksam widerlegen.

Wenn der Naturalist Wunder ablehnt, so heißt das nicht, dass er nicht bereit wäre, sich zu wundern oder Naturerscheinungen ob ihrer Schönheit, Verwickeltheit, Zweckmäßigkeit zu bewundern. Das Staunen ist nicht nur für Platon und Aristoteles der Anfang der Philosophie und der Wissenschaft, sondern auch für den Naturalisten eine wertvolle und typisch menschliche Fähigkeit. Wolfgang Wickler stellt deshalb Karl Bühlers Aha-Erlebnis zu Recht das Nanu-Erlebnis an die Seite.13 Naturerklärung schließt Naturerleben, Rationalität schließt Emotionalität keineswegs aus.

j) Es gibt keine außersinnliche Wahrnehmung.

Wohl kann es vieles geben, was wir noch nicht entdeckt haben. Auch weitere, bisher unbekannte Informationskanäle sind denkbar. Dann gibt es dazu aber auch Sinnesorgane und Messinstrumente (die man ebenfalls erst noch entdecken bzw. erfinden und bauen muss). Doch gibt es keinen Informationsübertrag ohne Energieübertrag, und man kann sogar angeben, welche Mindestenergie man braucht, um in unserem Universum ein Bit Information zu übertragen.14 Den meisten Behauptungen der Parapsychologie steht der Naturalist also äußerst skeptisch gegenüber.

Soweit die einschlägigen Phänomene (die dann als Hellsehen, Telepathie, Präkognition, Spuk, Telekinese oder Paraphysik gedeutet werden) überhaupt gut belegt sind, wird der Naturalist nach physischen, also materiell-energetischen Kräften, Wechselwirkungen, Feldern, Informationskanälen suchen. Gut belegte Para-Phänomene scheint es bisher nicht zu geben, auch wenn uns noch viele Beobachtungen Rätsel aufgeben mögen.

Angesichts ungewöhnlicher und unerklärter Phänomene hält der Naturalist es allemal für besser, zunächst einmal und recht hartnäckig bekannte Naturgesetze in Anspruch zu nehmen. Sollte er damit gleichwohl scheitern, so ist er durchaus bereit, auch Lücken und Irrtümer in unserem Naturwissen in Betracht zu ziehen und nach besseren Erklärungen, auch nach neuen Naturgesetzen zu suchen. Wissenschaftliche Revolutionen zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass selbst Kernaussagen unserer Theorien in Frage gestellt werden. Den Rückgriff auf Transzendenz, Außerweltliches, Unnatürliches, Esoterisches hält der Naturalist dagegen für eine intellektuelle Bankrotterklärung. Sicher können und müssen wir nicht alles erklären; aber wenn wir erklären wollen, dann fordert der Naturalist nachdrücklich die Beschränkung auf natürliche, reale, materiell-energetische Strukturen. Ein überzeugender Nachweis außersinnlicher Phänomene würde allerdings auch den Naturalisten zum Umdenken zwingen.

k) Auch das Verstehen der Natur führt nicht über die Natur hinaus.

Verstehen gelingt nur mit Hilfe unseres Gehirns, also eines natürlichen Organs. Dass solches Verstehen gelingen müsse, ist keineswegs gesichert; schließlich ist das menschliche Gehirn zunächst nur ein Überlebensorgan und braucht als solches für die Erkenntnis der Welt nicht unbedingt zu taugen. Aber dass Verstehen nicht gelingen könne, ist ebenfalls nicht gezeigt worden. Evolutiv erprobt wurde das Gehirn zwar nur in unserer kognitiven Nische, dem Mesokosmos; doch haben wir diesen Mesokosmos mit Hilfe der Sprache längst verlassen und unterliegen damit nur noch wenigen prinzipiellen Beschränkungen.

Eine naturalistische Deutung menschlichen Verstehens setzt allerdings eine naturalistische Lösung des Leib-Seele-Problems voraus. Eine solche Lösung, die alle Seiten befriedigen würde, gibt es bisher nicht. Problematisch sind insbesondere Konzepte wie Bedeutung, Intentionalität, qualitative Empfindungen („Qualia“)15. In dieser Frage ist der Naturalismus noch Programm.

l) Es gibt eine Einheit der Natur, die sich in einer Einheit der Wissenschaft spiegeln könnte.

Die Begriffe ‚Einheit der Natur‘ und ‚Einheit der Wissenschaft‘ sind ihrerseits einer Explikation bedürftig, aber auch durchaus fähig.16 Von der Idee einer Einheit der Natur haben wir schon bei einigen der bisherigen Thesen Gebrauch gemacht, etwa beim Primat des Materiell-Energetischen (d), beim Zusammenhangscharakter der Welt (g), bei der Ablehnung transzendenter Instanzen (h). Carl Friedrich von Weizsäcker, der allerdings – wie Kant – nur partiell Naturalist ist, charakterisiert seine Vorstellung von der Einheit der Natur durch fünf Vermutungen:17 – Einheit der Gesetze: Für die gesamte Natur gilt eine einzige fundamentale Theorie (für von Weizsäcker die Quantentheorie).

  • Einheitlichkeit der Objekte: Alle natürlichen Objekte sind aus Elementarbausteinen aufgebaut, die in nur wenige Klassen fallen (vgl. d, f).
  • Allheit der Objekte: Die Welt als Ganzes kann man als ein einziges Objekt ansehen.

  • Einheit der Erfahrung: Alle Erfahrungen lassen sich widerspruchsfrei in eine einheitliche Raumzeit einbetten.

  • Einheit von Mensch und Natur: Auch der Mensch als erkennendes Subjekt ist Teil der Natur in genetischer Kontinuität mit den Tieren, damit letztlich auch mit den unbelebten Systemen (vgl. e, g, k).

Offenbar macht von Weizsäcker gar nicht erst den Versuch, Einheit der Natur und Einheit der Wissenschaft zu trennen. Das ist bedauerlich; schließlich lassen sie sich ohne weiteres unterscheiden. So ist es durchaus denkbar, dass sich die Idee einer Einheit der Natur als erfolgreich erweist, wir eine Einheit der Wissenschaft aber aus eher pragmatischen Gründen doch nicht erreichen.

Für den Naturalisten ist die Idee von der Einheit der Natur richtungweisend. Sie kann jedoch in unterschiedlicher Weise ausgefüllt werden. Eine „endgültige“ Formulierung dieser Idee gibt es wohl noch nicht.

4. Was ist für den Naturalismus unabdingbar?

Alle diese Thesen sind als Arbeitshypothesen zu verstehen, die ihrerseits kritisierbar und korrigierbar sind. Einige von ihnen sind wenigstens indirekt prüfbar. These d etwa wäre widerlegt, wenn sich Kräfte ohne materiell-energetischen Träger nachweisen ließen, wenn es Lebenserscheinungen ohne materielle Grundlage gäbe oder psychische Vorgänge ohne neuronales (oder ein anderes vergleichbar kompliziertes materiell-energetisches) Substrat. Die Nichtexistenz solcher Träger kann zwar nicht bewiesen, aber doch hochplausibel gemacht werden. Für einen Standpunktwechsel sind also vor allem Erfolge und Misserfolge der Naturforschung aussschlaggebend. Tatsächlich wäre man früher wohl geneigt gewesen, den Naturalismus durch ein strenges Kontinuitätspostulat zu charakterisieren, etwa durch das Leibnizsche Natura non facit saltus.

Angesichts der modernen Physik hat sich dieses Postulat jedoch als unhaltbar erwiesen. (Es war also immerhin indirekt prüfbar, nämlich am Erfolg grundlegender physikalischer Theorien und ihrer Interpretationen.) Der Naturalist ist also bereit, seine Postulate zu überdenken und nötigenfalls zu ändern oder zu ergänzen. Methodisch steht er damit dem kritischen Rationalismus nahe. (Das bedeutet jedoch nicht, dass auch umgekehrt alle kritischen Rationalisten Naturalisten wären oder sein müssten; Popper selbst zum Beispiel ist – wie seine Dreiweltenlehre besonders deutlich zeigt – kein Naturalist.)

Natürlich kann der Naturalist nicht von jeder seiner Thesen beliebig weit abrücken. Wie jedes Weltbild enthält auch das naturalistische unabdingbare Elemente: Man kann sie nicht aufgeben, ohne den Naturalismus insgesamt preiszugeben. Dies ist kein Dogmatismus, sondern eine Frage der Begriffshygiene: Natürlich kann man die naturalistische Position bei Bedarf, auf eigenen oder fremden Wunsch oder auch ganz ohne Motiv verlassen; aber man wird nicht jede beliebige Position ‚Naturalismus‘ nennen.

Als programmatische Forderungen sind wohl unabdingbar:

  • Nur soviel Metaphysik wie nötig! (a)
  • Ein Mindestrealismus, nach dem es eine Welt ohne Menschen geben kann. (Schwache Version

von b)

  • Primat unbelebter Materie-Energie (d)
  • Aufbau realer Systeme aus einfacheren Teilen (e)

  • Keine erfahrungstranszendenten Instanzen (h)

  • Deshalb keine Wunder (i)

  • Auch die geistigen Leistungen des Menschen führen nicht über die Natur hinaus. (k)

  • Wie sich gezeigt hat, ist der Naturalismus in vielen Punkten noch Programm. Das Vertrauen, das Naturalisten in dieses Programm legen, stützt sich weniger auf Beweise – die es kaum gibt – als auf Ökonomieprinzipien, auf die forschungsleitende Rolle naturalistischer Thesen und auf bisherige Erfolge. Diese Stützen sind so elementar, dass der Antinaturalist es nicht leicht hat, sie ihrer stützenden Kraft zu berauben. Gleichzeitig zeigen sie, wie gegen den Naturalismus argumentiert werden kann: Man lehnt Ökonomieprinzipien (mit guten Gründen) ab; man zeigt, dass – mindestens gelegentlich – antinaturalistische Voraussetzungen heuristisch fruchtbarer sind als naturalistische; man lässt tatsächlichen oder erwartbaren Erfolg nicht als Argument gelten oder bestreitet wirksam den Erfolg des naturalistischen Ansatzes. Ob antinaturalistische Argumente sich nach dieser Einteilung sinnvoll systematisieren lassen, wäre zu prüfen; eine solche Prüfung kann hier freilich nicht mehr erfolgen.

    5. Warum bin ich Naturalist?

    Dieses Kapitel ist persönlicher als die vorangehenden. Der Herausgeber hat mich ausdrücklich darum gebeten. Es enthält weniger Argumente als Bekenntnisse. Ich halte Bekenntnisse für zulässig; aber Philosophie kann sich nicht darauf beschränken. Die eigentliche Aufgabe ist deshalb weder, Bekenntnisse abzulegen, noch, sie zu unterdrücken, sondern sie, wenn sie auftreten, als solche kenntlich zu machen. (Bei ‘Bekenntnissen’ handelt es sich nicht unbedingt um Glaubensbekenntnisse. Darauf werde ich noch eingehen.)

    Eine Position zu charakterisieren ist eine Sache, sie zu haben eine andere. Ich bin Naturalist in dem Sinne, wie ich ihn in den vorangehenden Kapiteln dargestellt habe. Sicher entspringt dieser Versuch meinem Wunsche, mir darüber klar zu werden, was ich eigentlich meine, in welche philosophische „Schublade“ ich gehöre.

    Man kann eine Haltung, einen Glauben, eine Überzeugung haben, ohne sich über das Warum Gedanken zu machen. Das ist sogar eher die Regel als die Ausnahme. Philosophen üben jedoch das Hinterfragen; einige sehen darin sogar die Hauptaufgabe der Philosophie. Und man kann eben auch seine eigene Haltung hinterfragen: biographisch, kritisch, argumentativ. Man kann sogar fragen, warum man dazu neigt, Dinge zu hinterfragen, kann das Fragen also auch auf sich selbst anwenden. Des Fragens ist dann kein Ende. Warum also bin ich Naturalist? Ich war es nicht immer. Wie und warum bin ich es geworden? Es gibt keinen bestimmten Moment, in dem das passierte, kein einschneidendes Ereignis, kein Schlüsselerlebnis. Es war ein ganz allmählicher Vorgang. Meist stellte ich sogar erst nachträglich fest, dass ich dieses oder jenes nicht mehr aufrecht erhalten wollte oder konnte. Der Naturalismus, wie ich ihn verstehe, hat viele Seiten: ontologische, methodologische, semantische.

    In religiösen Fragen sind Naturalisten Agnostiker oder Atheisten. Im Folgenden werde ich vor allem über diese religiöse Seite berichten. Aufgewachsen bin ich als evangelischer Christ. Bei uns zu Hause wurde gebetet, ich wurde getauft und konfirmiert, besuchte den Religionsunterricht und Gottesdienste, war jahrelang in der evangelischen Gemeindejugend, habe selbst eine Jugendgruppe geleitet und Tagungen der Evangelischen Akademie besucht. Unser Pfarrer schenkte mir ein zweisprachiges Neues Testament; er meinte, ich solle Theologie studieren und bei ihm Vikar werden. Ich wurde sogar noch kirchlich getraut.

    Aber mit den religiösen Inhalten hatte ich immer Schwierigkeiten. Die Bibel als Gottes Wort anzusehen, erschien mir eine Zumutung. Es gefiel mir nicht, wenn jemand eine Sachfrage mit einem Bibelzitat beantwortete. Ich erschrak, als ich erfuhr, wie wenig über die Person Jesus historisch belegt ist. Wunder schienen mir schon früh unglaubhaft. Das Theodizeeproblem schien mir nicht nur ungelöst, sondern unlösbar zu sein. Die Maxime einiger Kirchenlehrer „Credo quia absurdum.“ schien mir absurd. Wie will man absurde Aussagen, die man glauben soll, unterscheiden von absurdenAussagen, die man nicht glauben soll? Solcher Zweifel gab es noch mehr. Meine naturwissenschaftliche Ausbildung hat einiges dazu beigetragen. Dabei sind sowohl die Ergebnisse als auch die Methoden der Wissenschaft wirksam gewesen. Die Wissenschaft widerspricht vielen theologischen Aussagen. Und sie hat Methoden entwickelt, Probleme zu lösen, die von den Methoden der Theologie sehr verschieden sind. Die Feststellung, dass Ergebnisse oder Methoden verschieden sind, liefert allerdings noch keine Entscheidung darüber, welche Ergebnisse richtig und welche Methoden angemessen sind. Was soll, was kann man in einem solchen Falle tun? Hier kommt die Philosophie ins Spiel.

    In meiner philosophischen Ausbildung haben religiöse oder religionsphilosophische Fragen keine besondere Rolle (mehr) gespielt. Wirksam war sie trotzdem, und zwar, weil ich lernte und einsah, wie wichtig es ist, konsequent zu sein. Es gibt viele, auch und gerade viele Wissenschaftler, die sonntags etwas anderes für wahr halten als werktags. Es mag sein, dass man es schafft, wissenschaftliche und religiöse Wahrheiten als zwei Seiten derselben Wirklichkeit aufzufassen, als „perspektivisch“, als „dual“ oder „komplementär“. Mir gelingt das nicht; über Widersprüche kann ich so nicht hinwegsehen.

    Gewiss, man kann versuchen, solche Widersprüche zu vermeiden. Man könnte theologische Aussagen beschränken auf solche, die gar keine Wahrheitsansprüche erheben. Das wurde gelegentlich vorgeschlagen; es ist jedoch offenbar nicht der Weg, den die Theologie gehen möchte. Auch könnte man sie auf Bereiche beschränken, die der Erfahrung, insbesondere der wissenschaftlichen Erfahrung überhaupt nicht zugänglich sind. Aber wie will man dann ihre Wahrheit plausibel machen? Mir scheint, dass man um die Widersprüche nicht wirklich herumkommt. Damit entsteht eine Konkurrenz zwischen wissenschaftlichen und religiösen Aussagen. Und die Wissenschaft hat ein reiches Instrumentarium entwickelt, um solche Widersprüche zu beseitigen. Die Wissenschaftstheorie hat dieses Instrumentarium untersucht und erweitert. Als Wissenschaftstheoretiker neige ich dazu, dieses Werkzeug auch auf die Konkurrenz zwischen Wissenschaft und Theologie anzuwenden. Dabei zeigt sich, dass viele theologische Aussagen entweder nicht prüfbar sind oder die Prüfung nicht bestehen.

    Es ist aber nicht so, dass erst die Wissenschaftstheorie mich zum Naturalisten gemacht hätte. Zweifel hatte ich schon vorher. Aber sie hat mir die Mittel an die Hand gegeben, mit diesen Zweifeln umzugehen, sie zu präzisieren, mit Argumenten zu versehen, zu begründen. Und den Ausdruck ‘Naturalismus’ für meine Position habe ich sogar noch später kennen gelernt. Das war in meiner Gießener Zeit, etwa 1983, vor allem in Gesprächen mit meinen damaligen Kollegen Baumgartner, Franzen, Kanitscheider, Marquard, Meinhardt, Wetz (von denen nicht alle Naturalisten sind, die aber alle gute Gesprächspartner waren). Vorher stand mir nur der Ausdruck ‘Materialismus’ zur Verfügung. Er ist jedoch nicht besonders treffend. Erstens bringt er nur die ontologische Seite zum Ausdruck, eben den materiellen Aufbau der Welt. Zweitens hat sich dieser Materialismus selbst gewandelt, sogar korrigiert: Längst erkennen Materialisten an, dass die Welt nicht nur aus Materie besteht, sondern auch aus Feldern, Energie; wir sprechen deshalb deutlicher vom materiell-energetischen Aufbau der Welt (vgl. 3d). Drittens meinen viele, ein Materialist denke nur ans „Materielle“, es gehe ihm, vereinfacht gesagt, nur ums Geld. In diesem Sinne kann aber ein Materialist durchaus Idealist sein. Viertens ließ ‘Materialismus’ damals leicht an Dialektischen und Historischen Materialismus denken, und das schien mir – trotz vielfacher Übereinstimmung – doch sehr irreführend. Da kam mir der Ausdruck ‘Naturalismus’ sehr gelegen; nun hatte ich für meine Position auch einen Namen.

    Muss man seine Haltung auch nach außen vertreten? Sollte man sie verbreiten? Sollte man versuchen, andere zu überzeugen? Zu dieser Frage habe ich eine doppelte, aber hoffentlich doch klare Antwort: Wenn ich gefragt werde, dann sage ich deutlich meine Meinung. Fausts Antwort auf die Gretchenfrage „Wie hast du’s mit der Religion?“ ist – aus verständlichen Motiven – undeutlich, ausweichend, feige. Faust verschleiert, dass er ganz anders denkt als Gretchen: Sein Gott ist abstrakt und unpersönlich, Gretchens Gott ist konkret und persönlich.

    Aber ich habe nicht das Bedürfnis, andere zu bekehren; ich missioniere nicht. Dieser Versuch hat in der Weltgeschichte schon viel Unheil angerichtet. Ich bin Fallibilist: Wir machen immer Fehler, und es könnte sein, dass ich Unrecht habe. Der Fallibilist ist bescheiden: Er hat zwar eine Meinung, vielleicht sogar eine feste Überzeugung; aber er rechnet doch mit der Fehlbarkeit aller, auch mit der eigenen. Vielleicht glaubt er zu wissen, was anderen zu ihrem Glück fehlt; aber er ist dessen nicht sicher und wird deshalb niemanden zu seinem Glück zwingen oder auch nur zu überreden versuchen.

    Kaum jemand hat den Fallibilismus konsequenter vertreten als Karl Raimund Popper (1902-1994). Er hat ihn immer wieder formuliert, hat über Toleranz und intellektuelle Bescheidenheit vorgetragen, hat sie dringend empfohlen. Zwei Probleme sind dabei allerdings offen geblieben, ein theoretisches und ein praktisches.

    Das theoretische Problem liegt in der Frage, wie tolerant man gegenüber Feinden der Toleranz sein darf, sein muss. Ist man zu tolerant, so wird sie ausgenützt, erdrückt, beseitigt. Popper entscheidet sich deshalb für die Devise: „Keine Toleranz gegenüber den Feinden der Toleranz!“ Aber diese Strategie ist nicht konsequent: Die Toleranz wird dabei durchlöchert. Vor allem verwischt diese Strategie die Grenzen: Unter dem Vorwand, jemand trete die Toleranz mit Füßen, kann man ihn – und damit jeden – bekämpfen, und das auch noch im Namen der Toleranz! Eine glatte Lösung habe ich für dieses Problem nicht.

    Das praktische Problem besteht darin, dass Popper zwar Toleranz lehrte, als Person aber sehr intolerant sein konnte. Ich habe das mehrfach erlebt, und viele seiner Schüler, auch und gerade seine besten, haben darunter gelitten. Er hat sich damit selbst die ärgsten Feinde geschaffen. Man kann Popper damit entschuldigen, dass er nicht nur ein kluger, sondern zugleich ein leidenschaftlicher Mensch war. Aber der Widerspruch zwischen Lehre und Leben bleibt, ein Widerspruch, den man vornehm eine pragmatische oder performative Inkonsistenz nennt: Man handelt anders, als man selbst empfiehlt. Der Berechtigung einer Lehre tut das keinen Abbruch, wohl aber ihrer Überzeugungskraft.

    Wenn es stimmt, dass Rousseau, der doch mit seinem „Emile“ einen Roman über Erziehung schreibt, seine eigenen Kinder ins Waisenhaus gesteckt hat, dann hat auch er sich einer solchen pragmatischen Inkonsistenz schuldig gemacht. (Es besteht allerdings der Verdacht, dass Rousseau das nicht wirklich getan hat, sondern mit diesem Bekenntnis nur auffallen wollte. Dann war er allerdings nicht ehrlich, und das widerspricht seinen Erziehungsidealen vermutlich ebenfalls.) Sokrates lehrt, den Gesetzen müsse man gehorchen, auch wenn man sie für ungerecht hält. Dieser Lehre folgend, lehnt er es ab, sich durch die angebotene Flucht der Hinrichtung zu entziehen. Vielleicht gilt er manchen gerade deshalb als der bedeutendste Philosoph: Er stirbt sogar für seine Überzeugung.

    Ich erwarte also nicht, dass alle Menschen oder alle Kollegen oder alle Freunde Naturalisten sind oder werden. Natürlich ist es wohltuend festzustellen, dass man mit anderen einer Meinung ist. Man erspart sich dann Diskussionen, Begründungen, Auseinandersetzungen. Aber es ist nicht entscheidend. Entscheidend ist die Bereitschaft, ohne Polemik oder Herabsetzungen zu diskutieren. Entscheidend ist, dass man sich gegenseitig gelten lässt.

    Der Fallibilist hat es damit vergleichsweise leicht. Fallibilismus ist kein Glaubensbekenntnis. Der Fallibilist ist bereit, na ja, sagen wir, sollte bereit sein, alle Behauptungen – und alle Bekenntnisse – der Kritik auszusetzen: den Naturalismus, den Realismus, den kritischen Rationalismus und eben auch dessen Grundbaustein, den Fallibilismus. Diese Position, die auch den kritischen Rationalismus noch als vorläufig und korrigierbar ansieht, nennt William Bartley pankritischen Rationalismus.

    Rationalismus wird hier als eine methodologische Position aufgefasst. Eine Überschneidung ergibt sich also nur insoweit, als der Naturalismus selbst methodologische Elemente enthält oder nach sich zieht. Die methodischen Werkzeuge des Naturalismus sind aber im Wesentlichen gerade die des kritischen Naturalismus. (Die Umkehrung gilt nicht: Nicht jeder kritische Rationalist ist auch schon Naturalist. So würde ich Popper selbst nicht als Naturalisten bezeichnen; am wenigsten ist er es in seiner Drei-Welten-Lehre und in seiner Haltung zum Leib-Seele-Problem.)

    So darf man wohl pankritischer Rationalist und Naturalist sein. Und das bin ich dann auch.


    Der Aufsatz ist die 2003 überarbeitete Fassung (Ergänzung um Kapitel 5) des Artikels aus dem

    Buch: Gerhard Vollmer „Auf der Suche nach der Ordnung“. Stuttgart: Hirzel.

    Anmerkungen:

    1 Die Ausdrucksweise „mit rechten Dingen“ verwendet Hubert Markl in: Hubert Markl (Hg), Natur und Geschichte, Oldenbourg,

    München, Wien, 1983, S.75, um die Haltung des Naturwissenschaftlers zu charakterisieren. Als Kurzformel

    für den naturalistischen Standpunkt finde ich sie zuerst bei Winfried Franzen, „Grenzen des Naturalismus?“, Gießener

    Universitätsblätter, 17, Mai 1984, 69-77, S.72; sie ist jedoch zweifellos älter.

    2 Immanuel Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788), A 126 f.

    3 Zum naturalistischen Programm vgl. Ernest Nagel, „Naturalism Reconsidered“,Proceedings and Adresses of the

    American Philosophical Association, 28, Oct. 1955, 5-17. Nagel spricht allerdings nicht von einem Programm, sondern

    von einem „umfassenden intellektuellen Natur- und Menschenbild“; dazu gehöre „ein allgemeiner Entwurf für das

    kosmische Geschehen und für des Menschen Stellung darin sowie eine Forschungslogik“.

    Von einem Programm spricht jedoch Bernulf Kanitscheider, „Probleme und Grenzen eines naturalistischen Weltverständnisses“,

    in: U. Hinke-Dörnemann (Hg), Die Philosophie in der modernen Welt (für Alwin Diemer), Lang, Frankfurt

    1988, Band 1, 603-630, S.603.

    4 Von einem „Minimum an Metaphysik“ spricht auch Hans Jürgen Wendel, „Die Grenzen des Naturalismus“, in: Michael

    Großheim, Hans-Joachim Waschkies (Hg), Rehabilitierung des Subjektiven, Bouvier, Bonn 1993, 85-109, S.104.

    5 Vgl. Gerhard Vollmer, „Wider den Instrumentalismus“, in: Gerhard Vollmer, Wissenschaftstheorie im Einsatz, Hirzel,

    Stuttgart 1993, 161-181.

    6 So auch der Titel des leider wenig beachteten Buches: Roy Wood Sellars, Evolutionary Naturalism, Open Court,

    Chicago, London 1922.

    7 Dazu Gerhard Vollmer, „Der Evolutionsbegriff als Mittel zur Synthese – Leistung und Grenzen“, Philosophia Naturalis,

    8 Zur Emergenz vgl. Gerhard Vollmer, „Das Ganze und seine Teile. Holismus, Emergenz, Erklärung und Reduktion“, in:

    Wolfgang Deppert u.a. (Hg), Wissenschaftstheorien in der Medizin, de Gruyter, Berlin 1992, 183-223. Dort wird ausführlich

    diskutiert, dass man ‚Emergenz‘ auch anders explizieren kann, dass manche insbesondere die Nichterklärbarkeit

    der neuen Eigenschaften „von unten“ als definierendes Merkmal einbeziehen – was wir für ungeschickt halten.

    9 Zum Evolutionsargument etwa: Gerhard Vollmer, „Die Einheit der Wissenschaft in evolutionärer Perspektive“, in: Gerhard

    Vollmer, Was können wir wissen? Band 2: Die Erkenntnis der Natur, Hirzel, Stuttgart 1986, 32003, 163-199, vor

    allem S. 185-189.

    10 Dazu auch Gerhard Vollmer, „Bin ich ein Atheist?“, in: Edgar Dahl (Hg), Die Lehre des Unheils, Carlsen, Hamburg

    1993, 16-31; Goldmann, München 1995; auch in Gerhard Vollmer: Auf der Suche nach der Ordnung. Hirzel, Stuttgart

    1995, 168-184.

    11 Den Vorschlag, Einfachheit mit dem Falsifizierbarkeitsgrad gleichzusetzen, macht Karl Popper in: Logik der Forschung

    (1934), Mohr, Tübingen 91989, Abschnitt 43.

    12 So etwa Gordon Stein (ed), The encyclopedia of unbelief, Prometheus, Buffalo 1985, Stichwort „Miracles“.

    13 Wolfgang Wickler in: Franz Kreuzer (Hg), Nichts ist schon dagewesen, Piper, München 1984, S.177.

    14 Vgl. Hans Sachsse, Einführung in die Kybernetik, Vieweg, Braunschweig 1971, Kap 2.4, Rowohlt, Hamburg 1974,

    S.62.

    15 Zur Diskussion vgl. etwa Peter F. Strawson, Scepticism and Naturalism: Some Varieties, Methuen, London 1985. –

    David Papineau: Philosophical Naturalism, Blackwell, Oxford 1993. – Geert Keil, Kritik des Naturalismus, de Gruyter,

    Berlin 1 93.

    16 Zu diesen Begriffen vgl. etwa Gerhard Vollmer, Anm. 9, vor allem S.181-184.

    17 Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, Hanser, München 1971, 466-470 (mit Verweisen auf andere

    Textstellen).

    18 Er ist konsequenter als Popper selbst. Weil ich solche Konsequenz schätze, bin ich pankritischer

    Rationalist.

    Kann man Natu alist und pankritischer Rationalist zugleich sein? Oder ist das ein Widerspruch,

    vielleicht auch ein Pleonasmus? Ich denke, das ist nicht der Fall. Der Naturalismus ist eine umfassende

    philosophische Position („Überall in der Welt geht es mit rechten Dingen zu.“), die sich durch

    ihren universellen Anspruch und die geforderte Mittelbeschränkung auszeichnet. Der (pan)kritische

    18 Zum pankritischen Rationalismus Gerhard Vollmer, Wissenschaftstheorie im Einsatz, Hirzel, Stuttgart 1993, S.6-8, 152-3.

     


     

    III. Let There Be Brights – Richard Dawkins

    Wie wird ein Mem erschaffen? Sie können sich beispielsweise zurücklehnen und die Verbreitung einer neuen Mode untersuchen, eines neuen Wortes, einer neuen Art zu gehen oder zu reden – und so lassen Sie ein Mem sich auf seine eigene Weise entwickeln. Ein Beispiel wäre das sich geradezu als ‚Epidemie‘ ausbreitende englische Wort ‚basically‘ (dt. ‚im Grunde genommen‘), als Synonym für „äh …“. Aber in der Wissenschaft ist der ultimative Test das Experiment: Man wartet nicht einfach darauf, dass irgendwas passiert und beobachtet es dann, sondern man führt die Situation herbei, die man beobachten will.

    Das Mem “gay” für Homosexuelle verbesserte ihren Status in der Gesellschaft und, ich bin so mutig das zu behaupten, mehrte das Glück einer einst geschmähten Minderheit. Ähnlich soll ‚bright‘ eine Hilfe für eine andere in den USA belagerte Gemeinschaft werden: für diejenigen, in dem religiösesten Land der westlichen Zivilisation keine Religion haben, diejenigen, die als Atheisten, Agnostiker, Freidenker, Naturalisten, Säkuralisten oder Humanisten bezeichnet werden.

    Eine Gallup-Umfrage aus dem Jahr 1999 fragte amerikanische Wähler folgende Frage: „Wenn Ihre Partei eine allgemein gut qualifizierte Person zur Präsidentschaftswahl aufstellen würde und diese Person X wäre. Würden Sie die Person wählen?“ X nahm dabei die folgenden Werte an: Katholik, Jude, Baptist, Mormone, Farbiger, Homosexueller, Frau, Atheist. Sechs der acht Kategorien erhielten Werte von über 90 Prozent. Aber lediglich 59 Prozent würden einen Homosexuellen und gar nur 49 Prozent würden einen Atheisten wählen. Man muss dabei bedenken, dass es 29 Millionen Amerikaner gibt, die sich selbst als nicht-religiös, säkular, Atheist oder Agnostiker beschreiben; das übertrifft die Anzahl der Juden um das Zehnfache und alle anderen Religionen außer dem Christentum sogar noch mehr.

    Dieselbe Frage wurde von Gallup im Jahre 1978 gestellt, mit aufschlussreichen Unterschieden. 1978 hätten lediglich 26 Prozent der amerikanischen Wähler daran gedacht, einen Homosexuellen zu wählen. Ist es möglich, dass das Wort „gay“ und die mit ihm aufgekommene Schwulenbewegung teilweise für die Verbesserung auf 59 Prozent im Jahr 1999 verantwortlich ist? Falls ja, gibt es allen Grund für die verachteten 29 Millionen nach ihrem eigenen „gay“ zu streben.

    Ich bin ein Bright. Sie sind (wahrscheinlich) ein Bright. Die meisten der Menschen, die ich kenne, sind Brights. Die Mehrzahl der Wissenschaftler sind Brights. Wahrscheinlich gibt es eine Menge geheimer Brights im Parlament, aber sie trauen sich nicht, es öffentlich zu sagen. Bedenken Sie bei diesen Beispielen, dass das Wort ein Substantiv ist, kein Adjektiv. Wir Brights behaupten nicht, bright im Sinne von intelligent zu sein, genauso wenig, wie die Schwulen behaupten, gay im Sinne von erfreut zu sein. Ob eine statistische Tendenz für Brights (Substantiv) besteht, bright (Adjektiv) zu sein, ist zu untersuchen. Ich würde mich über eine solche Untersuchung sehr freuen und ich halte ein Ergebnis für wahrscheinlich, aber das hat nichts mit der Definition des Substantivs zu tun.

    Das Substantiv Bright wurde von Paul Geisert und Mynga Futrell aus Sacramento in Kalifornien geprägt. Im April war ich bei einer Präsentation von ihnen über das neue Wort in Florida und wenig später starteten sie das ‚The-Brights.net‘. Dieses neue Mem wurde kurze Zeit darauf durch zwei enthusiastische Artikel in Zeitungen mit großen Auflagen lanciert. Am 21. Juni folgte der renommierte Philosoph Daniel Dennett mit „The Bright Stuff“ in der New York Times. So ist das Brights-Mem entstanden. Wird es sich wie „gay“ oder die falsch-herum getragene Baseball-Cap verbreiten? Oder wird es im Meer der Meme untergehen? Ich hoffe, es wird einen erfolgreichen Start haben. Ich wette sogar, dass es dies trotz der Feindschaft derjenigen erreicht, die das Wort falsch verstehen und es als arrogantes Adjektiv verunglimpfen, und derjenigen, die dem Erfolg von „gay“, und aller solcher Wortschöpfungen kritisch gegenüberstehen.

    Aber am meisten bin ich als ein unvoreingenommener Wissenschaftler einfach neugierig, was passieren wird.

     


     

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