Brauchen Werte Gott?


Landesvereinigung Hessen e. V.

mit freundlicher Genehmigung von von Dr. Sikandar Siddiqui

Erhebliche Teile der deutschen Bevölkerung befinden sich seit einiger Zeit in einer tiefgreifenden ethischen Orientierungskrise. Diesen Schluss legt jedenfalls die Vehemenz nahe, mit der so unterschiedliche Persönlichkeiten wie etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel[1], FDP-Vize Walter Döring[2] und der Berliner Bildungssenator Klaus Böger (SPD)[3] eine (Rück-)Besinnung auf und das Eintreten für „unsere Werte“ zur notwendigen Bedingung für die Lösung aktueller tagespolitischer Probleme – etwa in der Bildungs-, und Sozialpolitik oder auf dem Gebiet der inneren Sicherheit – erklären.

So viel augenscheinliche Einigkeit ist bemerkenswert. Zugleich stellt sich aber die Frage, ob sich hinter dem Gleichklang der Formulierungen nicht doch sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber verbergen, anhand welcher die Leitlinien für das Zusammen­leben innerhalb einer Gesellschaft geregelt werden soll, und auf welchen Gebieten überhaupt ein solcher Regelungsbedarf besteht.

Die Berechtigung dieser Frage wird durch die Art und Weise unterstrichen, wie der Wertebegriff in der Alltagssprache gebraucht wird: Ethische Werte sind – pragmatisch gesprochen – Eigenschaften, die eine Handlung, Auffassung oder Verhaltensregel besitzen oder zum Ausdruck bringen muss, um als gut gelten zu können. Doch bei dem Versuch, diesen Begriff näher zu konkretisieren, können verschiedene Personen zu sehr unterschiedlichen Aussagen kommen: Darüber, ob beispielsweise Vaterlandsliebe, familiärer Zusammenhalt, Disziplin und ökonomische Effizienz – oder internationale Solidarität, Selbstverwirk­lichung, Zivilcourage und sozialer Ausgleich – als Werte anerkannt werden sollten, dürfte auch in Zukunft noch intensiv nachgedacht und kontrovers gestritten werden.

Noch komplizierter ist es erfahrungsgemäß, zwischen zwei oder mehr konkurrieren­den Werten zu entscheiden, deren Gültigkeit prinzipiell als gegeben unterstellt wird. Wie etwa ist in Situationen zu entscheiden, wo mehr ökonomische Effizienz im Betrieb nur zu Lasten des lieben Vaterlandes erreichbar ist, etwa weil ausländische Lieferanten besser und billiger produzieren als ihre inländischen Konkurrenten? Was ist zu tun, wenn ein höheres Maß an sozialem Ausgleich dauerhaft nur durch eine höhere Einkommensteuer­progression erreichbar ist, die von vielen Betroffe­nen als Beschränkung ihrer Selbstverwirk­lichungsmöglichkeiten empfunden wird? Der relativ abstrakte Charakter des Wertebegriffs sowie die Vieldeutigkeit und potenzielle Widersprüchlichkeit seiner konkreten Interpretationen lassen es wenig realistisch erscheinen, sich von allgemein gehaltenen Appellen an „unsere Werte“ entscheidende Impulse zur Lösung konkreter gesellschaftlicher Konflikte und Problemstellungen zu erhoffen.

Wertebegründung durch Religion?

Weitgehend unbeeindruckt von derartigen Spitzfindigkeiten verschaffen sich derzeit in der Debatte über die ethischen Rahmenbedingungen gesell­schaft­lichen Zusammenlebens zunehmend Stimmen Gehör, die für eine stärkere Geltung religiöser Inhalte in diesem Kontext werben. Ein besonders augenfälliges Beispiel hierfür ist das von Bundesfamilien­ministerin Ursula von der Leyen im April 2006 initiierte „Bündnis für Erziehung“[4], welches ausdrücklich zum Ziel hat, „christliche Werte wieder zum Fundament der Erziehung“[5] zu machen. Ganz folgerichtig haben dabei vorsichtshalber nicht etwa Lehrer, Erziehungswissenschaftler oder gar Elternvertreter, sondern ein katholischer Kardinal und eine evangelische Bischöfin die „Eckpunkte für eine wertegebundene Erziehung“[6]festgelegt, bevor sich dieses Projekt nun auch für andere Gruppen geöffnet hat.

Gestützt werden derartige Forderungen häufig mit dem Hinweis auf die Unmöglich­keit einer philosophischen Letztbegründung allgemeingültiger ethischer Werte: Von jedem noch so plausiblen Argument, das zur Rechtfertigung bestimmter ethischer Normen herangezogen wird, kann gefordert werden, dass es seinerseits durch eine noch grundlegendere Begründung untermauert werden müsse. Die unendliche Fortführung einer derartigen Begründungskette ist jedoch offensichtlich unmöglich. Da aber – so wird behauptet – eine Gesellschaft nicht dauerhaft ohne einen verbindlichen Wertekanon existieren könne, müsse das religiöse Bewusstsein in einer Gesellschaft erhalten und gestärkt werden. Bündig zusammenfassen lässt sich diese Position mit dem Wahlspruch, mit dem die evangelischen Kirchenkreise in Berlin unlängst gegen die Einführung eines Pflichtfaches „Ethik“ im Schulunterricht protestierten: „Werte brauchen Gott“.

Doch ob einer – angeblich oder tatsächlich – bestehenden ethischen Orientierungskrise durch eine Besinnung auf religiös motivierte Wertvorstellungen gelöst werden kann, darf auch bezweifelt werden. Zwar mag gläubigen Menschen der Rekurs auf die Gebote Gottes als letztgültige Grundlage ihrer ethischen Wertvorstellungen dienen; für skeptische oder gar ungläubige Zeitgenossen dürfte diese Argumentation jedoch nicht mehr als den Versuch darstellen, subjektive Gewissheiten gegen lästige Kritik durch Andersdenkende zu immunisieren und ihnen ohne weitergehende sachliche Begründung eine Aura der Unantastbar­keit zu verleihen.

Nicht einfacher wird der Versuch einer religiösen fundierten Begründung allgemein­verbindlicher moralischer Werte auch dadurch, dass über die Frage, was denn nun Wesen und Wille Gottes sei, auch zwischen gläubigen Menschen unterschiedlicher Prägung oft keine Einigkeit erzielt werden dürfte. Die ebenso zahlreichen wie erheblichen dogmatischen Unterschiede zwischen den Gottesvorstel­lungen in unterschiedlichen Religionen legen diesen Schluss zumindest nahe. Hinzu kommt, dass es oft auch innerhalb der meisten Religionsgemeinschaften eine große Vielfalt sehr unterschiedlicher Interpretationen derjenigen Texte und Traditionen gibt, auf denen das gemeinsame Selbst­verständnis ihrer Angehörigen beruht.

Jede dieser unterschiedlichen Vorstellungen und Interpretationen fußt auf einer Reihe theologischer Fundamentalaussagen, deren Inhalt einer intersubjektiv nachvollziehbaren, vorbehaltlosen Überprüfung nicht zugänglich ist. Zumindest soweit es diese Fundamental­aussagen betrifft, ist es folglich schlechterdings unmöglich, in allgemeingültiger Weise zwischen „wahren“ und „falschen“ religiösen Überzeugungen zu unterscheiden. Durch den Versuch einer religiösen Fundierung ethischer Werte wird also, wie es Ekkehard Arnold[7] treffend formuliert, das Begründungsproblem ethischer Wertvorstellungen lediglich in die Sphäre des Religiösen verlagert und damit nicht gelöst, sondern nur noch weiter kompliziert. Möglicherweise können sich Anhänger unterschiedlicher Weltanschauungen weitaus eher darauf verständigen, dass es falsch ist, andere Menschen zu töten, zu verletzen oder zu bestehlen, als darüber, ob nun Jesus, Jahwe, Allah, Elvis oder gar niemand der wahre Gott ist. Dort aber, wo einander widersprechende ethische Auffassungen in konfliktträchtiger Weise aufeinander treffen, dürfte die Situation nicht ausgerechnet dadurch entschärft werden können, dass zusätzlich hierzu auch noch die religiösen Überzeugungen der Kontrahenten zum Gegenstand der Ausein­andersetzung werden.

Dieses Argument wird gelegentlich mit der Behauptung zu relativieren versucht, die ethischen Prämissen demokratischer Rechtsordnungen – also u.a. die Unantastbarkeit der menschlichen Würde sowie die Freiheit und Gleichheit aller Menschen – seien spezifisch christlichen Ursprungs. So schreibt etwa Hans Maier, Menschenrechte und Menschenwürde seinen „nicht denkbar ohne das Werk christlicher Erzie­hung“[8]. Geflissentlich ignoriert wird dabei der Umstand, dass ethische Prinzipien, welche als Wegbereiter für das moderne Menschenrechtsverständnis gelten können, bereits in vorchristlicher Zeit formuliert wurden[9]. So kann nicht oft genug betont werden, dass die wesentlichen Elemente der christlichen Ethik (und des so genannten christlichen Menschen­bildes, auf das sich in diesem Kontext gerne berufen wird) auf jüdischen Überlieferungen beruhen[10]. Als weltweit erste Menschenrechtscharta wurde 1971 von der UNO aber das Edikt des persischen Reichsgründers Kyros II.[11] aus dem Jahr 539 v. Chr gefeiert, in dem (anders als etwa in den zehn Geboten) u.a. die Freiheit der Religionsausübung zugesagt und die Abschaffung der Sklaverei gefordert wird. Die Idee der naturgegebenen Gleichheit und Freiheit aller Menschen findet sich schon im 5. bzw. 4. vorchrist­lichen Jahrhundert bei den athenischen Sophisten Antiphon und Alkidamas[12]. Von einer allen Menschen von Natur aus eigenen Erhabenheit und Würde ist bereits bei Cicero (106-43 v. Chr.) die Rede[13]. Der Umstand, dass entsprechende Inhalte aus der jüdischen Tradition und der griechisch-römischen Antike vor dem Vergessen bewahrt werden konnten, ist nicht allein ein Verdienst des Christentums; auch islamische und jüdische Gelehrte hatten daran entscheidenden Anteil[14]. Die Tatsache, dass diejenigen Staaten, in denen die Idee unveräußerlicher, universeller Menschenrechte erstmals zur Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung wurde, in Europa und Nordamerika liegen, ist das Ergebnis eines keineswegs geradlinig, sondern höchst kompliziert und konfliktreich verlaufenen Entwicklungs­prozesses, dem kirchliche Autoritäten oft und lange genug eher feindselig als förderlich gegenüberstanden[15]. Heute setzen sich weltweit Anhänger der unterschiedlichsten Religionen und Weltanschauungen für die Geltung dieser Idee ein, ohne ihre jeweils individuelle Herkunft und Prägung zu verleugnen. Dies alles spricht dafür, dass diese Idee zum kulturellen Erbe der Menschheit insgesamt gehört und sich einer einseigen Vereinnahmung durch einen bestimmten Kulturkreis entzieht.

Wertebegründung durch Dialog

Unabhängig davon ist aber auch fraglich, ob überhaupt einer – transzendenten oder immanenten – Letztbegründung ethischer Werte bedarf, um bestimmten rechtlichen und sozialen Normen ein höheres Maß an Legitimität zuzuerkennen als anderen (oder einem Zustand völliger Regel­losigkeit). Jede Verhaltensregel, deren Befolgung wirksam genug durchgesetzt wird, schränkt zwar die individuelle Handlungs­freiheit der betroffenen Personen ein, erhöht aber auch die subjektive Erwartungs­sicherheit des Einzelnen hinsichtlich des Verhaltens anderer. Immer dann, wenn eine Person den Gewinn an Sicherheit, der mit der Durchsetzung einer bestimmten Norm verbunden ist, für wertvoller erachtet als den Teil ihrer der persönlichen Handlungsfreiheit, den sie dadurch einbüßt, wird sie bereit sein, dieser Norm zuzustimmen. Vor diesem Hintergrund kann – in enger Anlehnung an Habermas’ Konzept der Diskursethik[16] – eine Norm in um so höherem Maße als legitim gelten, je größer der Anteil derjenigen Menschen, die dieser Norm ohne Ausübung von Zwang zustimmten (würden), an der Gesamtheit der von ihr betroffenen Personen ist.

Durch dieses formale Kriterium wird lediglich das Verfahren der Normfindung festgelegt; es besteht im gleichberechtigten, ehrlichen Dialog aller betroffenen Personen und in der Anwendung des Prinzips der größtmöglichen Mehrheit als Entscheidungsregel. Das Ergebnis des Dialog- und Abstimmungsprozesses ist dagegen zumindest prinzipiell offen. Daher besitzt dieses Verfahren immer dann bessere Chancen auf Akzeptanz als die Berufung auf göttliche Gebote, wenn sich Anhänger unterschiedlicher Religionen oder Weltanschauungen auf gemeinsame Regeln für ihr Miteinander einigen müssen. Die Unmöglichkeit einer Letztbegründung ethischer Werte und Normen schließt also keineswegs aus, dass die Mitglieder einer kulturell und weltanschaulich heterogenen Gesellschaft ihr Zusammenleben in einer relativ konfliktarmen und willkürfreien Weise organisieren können.

Dabei ist ausdrücklich zuzugeben, dass die idealtypische Bedingung eines gleichberechtigten, ehrlichen Dialogs aller Betroffenen in real existierenden Entscheidungs­situationen wahrscheinlich kaum jemals vollständig erfüllt werden kann (und in vielen konkreten Situationen nicht einmal ansatzweise erfüllt ist). Zudem können neue ethische oder rechtliche Problemstellungen sowie zwischenzeitlich gewonnene Erfahrungen über die Wirkungsweise bestehender Normen deren Revision erforderlich erscheinen lassen. Auch kann selbst die konsequen­teste nur denkbare Anwendung der Prinzipien des Dialogs und der Mehrheitsentscheidung keine Gewähr dagegen bieten, dass einzelne, konkrete Ergebnisse dieses Verfahrens später – im Licht ihrer Konsequen­zen – als grausame Verirrungen bewertet werden.

Ob indes auch nur eines dieser praktischen Probleme gelöst werden kann, indem beim Versuch einer Begrün­dung rechtlicher und kultureller Normen allein oder vorrangig auf religiöse Überlieferungen zurückgegriffen wird, ist zweifelhaft. So einseitig es auch ist, beispielsweise die Geschichte des Christentums allein als „Kriminalgeschichte“ (Karlheinz Deschner) zu begreifen, so wenig lässt sich doch auch die große Zahl der Verbrechen leugnen, welche auch von Angehörigen des christlich-abendländischen Kulturkreises im Namen Gottes verübt worden sind. Stellvertretend für viele davon sei hier nur an die zeitweise Ausplünderung ganzer Erdteile durch die europäischen Kolonialmächte erinnert und auf den lange Zeit innerhalb der christlichen Kirchen vorherrschenden Antijudaismus verwiesen, welcher der Saat des nationalsozialistischen Rassenwahns als fruchtbarer Nährboden diente. Der gelegentlich geäußerten Behauptung, solche Untaten seien lediglich punktuelle Abweichungen vom Pfad der Tugend, und das „wahre“ Christentum fordere Respekt und Toleranz gegenüber den Überzeu­gungen Anders- und Ungläubiger, kann nicht nur anhand des historischen Befundes, sondern auch aufgrund einer Reihe von Bibelzitaten durchaus widersprochen werden[17].

Als Begründung für eine einseitige, pauschale Christentumsschelte kann diese Überlegung dennoch nicht dienen. Vielmehr dürfte auch für das Christentum gelten, was Navid Kermani unlängst über Religionen oder Weltanschauungen ganz allgemein geschrieben hat: Keine von ihnen ist an sich gut oder schlecht; jede von ihnen dient je nach Situa­tion „als Medium, Katalysator und Verstärker menschlicher Verhaltensweisen, Sehnsüchte und Rechtfertigungen“[18], in dem die große Vielfalt und Ambivalenz des Menschenmöglichen Ausdruck findet. Wenn Vertreter von Kirchen und Religions­gemein­­schaften in besonders engagierter Weise an der Debatte über die ethischen Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens teilnehmen, so ist das also im Interesse einer lebendigen Auseinandersetzung nur zu begrüßen. Nicht mit dem Prinzip des gleichberechtigten Dialogs zu vereinbaren ist es dagegen, wenn – wie im Falle des Bündnisses für Erziehung – Vertretern bestimmter Bekenntnisse dabei eine bevorzugte Behandlung eingeräumt wird. Allzu leicht kann sonst der Eindruck entstehen, die Regierung traue nichtchristlichen Minderheiten – dazu gehören in Deutschland immerhin (unter anderem) über zwanzig Millionen Konfessionslose und Atheisten, etwa drei Millionen Muslime und über hunderttausend Juden – nicht zu, wertvolle Beiträge zur Beantwortung ethischer Frage­stellun­gen leisten zu können, und wolle ihnen im Grunde nur die Wahl zwischen Unterordnung und Ausgrenzung lassen.

Möglichkeiten und Grenzen der Ethik

Die Alltagserfahrung legt den Schluss nahe, dass sich Menschen unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Prägung in zum Teil durchaus hohem Maße altruistisch verhalten können. Augenscheinlich gilt dies besonders dann, wenn sich die beteiligten Personen in geringer räumlicher Entfernung zueinander befinden oder einander durch verwandtschaftliche, nachbarschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen verbunden fühlen. Aber auch in Fällen, wo diese Bedingungen nicht erfüllt sind, lässt sich bei Menschen oft die Bereitschaft beobachten, anderen in der Not beizuste­hen oder sich für das Wohl künftiger Generationen einzusetzen: Die große Spendenbereitschaft der deutschen Bevölkerung bei Naturkatastrophen oder Hungersnöten in anderen Teilen der Welt kann hierfür ebenso als Beispiel genannt werden wie die engagierte Arbeit von internationalen Organisa­tionen wie Amnesty International oder Greenpeace. Wahrscheinlich liegt diese Befähigung darin begründet, dass Empathie, Koopera­tions­­bereitschaft und tätige Solidarität sich in der Jahrtausende langen Entwicklungsgeschichte der Spezies Mensch oft genug als tragfähige Überlebensstrategien erwiesen haben[19]. Gerade das Bemühen darum, mit Kindern und Jugendlichen altruistische und kooperative Verhaltensweisen einzuüben kann also, wie es scheint, auf evolutorisch erworbenen Dispositionen aufbauen und bedarf nicht notwendigerweise einer religiösen Grundlage. Zwar wäre es naiv zu glauben, ein zugleich freies und weitestgehend friedliches Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft stelle sich allein aufgrund dieses entwicklungsgeschichtlichen Erbes von selbst ein. Das Wissen um diese Fähigkeit lässt es jedoch als möglich erscheinen, dass sich auch Personen sehr unterschiedlicher kultureller und weltan­schaulicher Prägungen auf die Formulierung und wirksame Durchsetzung entsprechender Verhaltensregeln einigen können.

Dennoch führt wohl kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die Wirksamkeit ethischer Werte und Verhaltensregeln – unabhängig davon, ob sie religiös oder säkular begründet werden – begrenzt ist. Wenn einem erwachsenen Menschen nicht ohnehin einleuchtet, dass es sich nicht gehört, andere zu bestehlen oder auszubeuten, ihnen körperliche Verletzungen oder seelische Kränkungen zuzufügen, sie ihrer Freiheit oder gar ihres Lebens zu berauben, ist fraglich, ob er sich von göttlichen Geboten oder philosophischen Erwägungen zur Umkehr bewegen lässt. Wer im Wissen um all das Leid, das etwa materielle Unterversorgung, Gewalt und Repression jeden Tag über viele Menschen in der Welt bringt, dennoch keinen anderen Maßstab anerkennen will als das Recht des Stärkeren, dem wird wahrscheinlich weder eine Moralpredigt von der Kirchenkanzel noch ein Ethikseminar in der örtlichen Volkshochschule zu anderen Einsichten verhelfen. Überall dort allerdings, wo sich Einzelne oder Gruppen aus freien Stücken solidarisch und fried­fertig verhalten, besteht die Hoffnung, dass dieses Beispiel Schule macht und dazu beiträgt, dass sich Menschen das Leben nicht gegenseitig zur Hölle machen. Wer meint, dass „Werte Gott brauchen“, findet in einer pluralistischen Gesellschaft genügend Gelegenheiten, seine besondere Tugendhaftigkeit durch entsprechende Handlungen zu beweisen und muss nicht um eine politische Privilegierung des „wahren Glaubens“ nachsuchen.

[1] Interviewbeitrag, n-tv, 24.08.2006
[2] Rede auf der Dreikönigskundgebung der FDP, Stuttgart, 6. Januar 2006
[3] „Wir müssen unsere Werte verteidigen“, Der Tagesspiegel, 22.11.2004
[4] vgl. hierzu die Pressemitteilung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 20. April 2006: „Bündnis für Erziehung gestartet!“
[5] zitiert nach „Bild am Sonntag“ vom 16.04.2006
[6] n-tv, 20. April 2006
[7] Ekkehard Arnold, Die Bewusstseinsphilosophie Eric Voegelins als Grundlage politischer Ordnung. Magisterarbeit, Universität Bonn, 2000.
[8] Hans Maier, Christentum und Menschenrechte – Historische Umrisse, in: W. Odersky (Hg.), Die Menschenrechte, Düsseldorf 1994, S.49-64
[9] hierzu ausführlich Hubert Cancik, Gleichheit und Freiheit, Die antiken Grundlagen der Menschenrechte, in: G. Kehrer (Hg.), Vor Gott sind alle gleich – soziale Gleichheit, soziale Ungleichheit und die Religionen. Düsseldorf 1983, S.190-211.
[10] hierzu exemplarisch G. Streminger, Eine Kritik der christlichen Ethik, in: Aufklärung und Kritik 1/1999, S. 3-26, insbesondere Ziffern 44-46.
[11] vgl. hierzu M.A. Dandamayev, Cyrus the Great, Encpclopedia Iranica Bd. 6, 1993, S. 516-521
[12] siehe Armin Pfahl-Traughber, Haben die modernen Menschenrechte christliche Grundlagen und Ursprünge?, humanismus aktuell, 5/1999, S. 66-77, sowie die darin zitierten Quellen.
[13] Marcus Tullius Cicero, De officiis („Vom rechten Handeln“), Lateinisch/ deutsch, übersetzt von K. Büchner, Zürich 1964, I, 14, S. 106f. und 130f.
[14] zu diesem Thema exemplarisch C. von Wolzogen, Der Islam und die Quellen der Aufklärung, Neue Zürcher Zeitung vom 23. April 1991.
[15] vgl. hierzu K. Hilpert, Die Menscherechte – Geschichte, Thelologie, Aktualität, Düsseldorf 1991, S. 137ff.
[16] Jürgen Habermas, Diskursethik. Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1983.
[17] stellvertretend für viele Joh.8,43-44, Römer 1, 32 und 2.Petrus 2,13-14; ausführlicher hierzu Joachim Kahl, Das Elend des Christentums, Reinbek 1993, insbes. S. 22-75.
[18] Navid Kermani, Es ist wichtiger, ein guter Mensch zu sein als ein guter Muslim, Neue Zürcher Zeitung vom 5. Juli 2006.
[19] siehe hierzu Franz M. Wuketits, Soziobiologie – Die Macht der Gene und die Evolution sozialen Verhaltens, Heidelberg 1997, S. 172-184.

3 Comments

  1. schöner Artikel, wollte ich auch gerade schreiben!

    Wenn in der Politik von Werten die Rede ist, dann ist damit meistens das Eintreten für den Wert der Intoleranz durch den Staat gegenüber der Vielfalt der Einzelwerte in der Bevölkerung gemeint.

    Ich denke nicht, dass man auf die Begründung von Werten verzichten kann, wie es etwa die Religion mit ihrer vermeintlichen Letztbegründung tut, die also letztendlich den Willen zum Grund macht.

    Wenn man einen Grund für einen Wert nicht mehr erkennen kann, dann braucht man sich an die daraus folgenden Verhaltensnormen nicht mehr zu halten: Ein Wert ist niemals Selbstzweck.

    Wer von christlichen Werten redet, provoziert: Wenn dann herauskommt, was gemeint ist, wird man sich im Einzelnen viel schneller einig. Es gibt nicht „die christlichen Werte“.

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