Lyndsey Stonebridge: „Für Arendt bedeutet Freiheit auch, Souveränität aufzugeben“


Friedrich Weißbach | philosophie Magazin

Bild: Bridgeman Images (Imago)

Philosophie Magazin: Warum ist es wichtig, Hannah Arendt heute zu lesen?

Lyndsey Stonebridge: Arendt hat in einer turbulenten Zeit gelebt und über Themen nachgedacht, die auch für unsere Zeit wieder entscheidend sind: Vor allem, wenn man die Flüchtlingskrisen oder das Wiederaufkommen totalitärer Denkformen in den Blick nimmt. Auch wenn sie uns nicht lehrt, was wir denken oder sagen sollen, können wir von ihr lernen, denn sie lehrt uns, wie wir denken sollen.

In Ihrem Buch Wir sind frei, die Welt zu verändern sagen Sie, dass wir Arendt brauchen, weil sie eine der wenigen Denkerinnen ist, die versteht, was wir zu verlieren haben, wenn die Politik unmenschlich wird. Was genau versteht Arendt darunter?

Einige Aspekte einer unmenschlichen Politik sind sehr offensichtlich: etwa die Flüchtlingspolitik in Europa, Großbritannien und den USA. Aber Arendt lehrt uns auch etwas über eine Art tiefen und begründeten Sinn für Menschlichkeit. Diesen verlieren wir, wenn wir die Welt nicht mit dem gesunden Menschenverstand wahrnehmen. Sobald wir uns von der Realität abkoppeln und nicht mehr zwischen Fakten und Fiktion unterscheiden können, geht uns der Blick für die gemeinsame Welt verloren. Und an diesem Punkt ist dann das, was die Welt menschlich macht, sehr leicht zu beseitigen und zu vernichten. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft sagt Arendt, dass das ideale Subjekt totalitärer Herrschaft nicht der überzeugte Kommunist oder Nazi ist, sondern die Person, die nicht mehr zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden kann.

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