Anthropozän – Anatomie eines Falls


Prof. Dr. Reinhold Leinfelder | Spektrum/SciLogs

Paul Crutzen, der “Vater des Anthropozäns” > Quelle Bild: R.Leinfelder/Spektrum/SciLogs

In Teilen berichteten die Medien auch von den Unregelmäßigkeiten bei dieser Entscheidung. Was war denn da los? Der Anthropozäniker hat sich ja zumindest hier im Blog bislang sehr zurückgehalten, so hab ich bislang nur das Statement unserer Anthropocene Working Group (AWG) präsentiert sowie dort Links zu einigen Medienartiken und weiteren Verlautbarungen nachgetragen.  Da am 25. März 2024 aber die gesamte Webseite der AWG (als Unterseite der SQS) gelöscht wurde (darunter die Liste der Mitglieder, das gesamte Verzeichnis unserer Publikationen sowie sämtliche Newsletter, auch der aktuelle und letzte), will ich aber nun doch eine umfassendere Erläuterung aus meiner Sicht hinzufügen.

Fangen wir an:  Der Anthropozäniker berichtet ja schon seit 2011, wie es zum Vorschlag des Anthropozäns durch Nobelpreisträger Paul Crutzen kam (Abb. 1), welche Aufgaben die Anthropocene Working Group hat (siehe Kap. 2) und was hier an bislang Unvorstellbarem durch die Forschung der AWG weiter ans Licht kam. Einiges davon möchte ich in diesem “Abwahlfall” näher beleuchten. Zuallererst: Ja, die AWG ist tatsächlich „nur“ ein Beratungsgremium, wie so viele andere Arbeitsgruppen, Beiräte oder ähnliches, die eingesetzt werden, um Lösungsvorschläge zu aktuellen Themen/Vorgängen/Herausforderungen zu erarbeiten.  Dass diesen nicht gefolgt wird oder sie auch mal formal abgelehnt werden können, ist insofern vielleicht keine große Aufregung wert. Oder etwa doch? Zumindest gab bei der Ablehnung aus unserer AWG-Sicht viel Unverständliches bei der prozeduralen Vorgehensweise. Dies wurde von den Medien später zum Teil ebenfalls thematisiert. Aber es ist in diesem Kontext auch wichtig, auf kaum Beleuchtetes ebenfalls ein bisschen Licht zu werfen. 

1. Prozedurales zur Ablehnung durch SQS/ICS und IUGS

Aufgrund unseres auch hier im Blog veröffentlichten AWG-Statements sowie von Nachfragen der Medien, kann ich dieses Kapitel einigermaßen kurz halten; ich will auch nicht den Hauptfokus darauf lenken (obwohl aus unserer Sicht etliches doch recht bedenklich erscheint):

Also, wir sandten unseren umfassenden gemeinsamen, mit großer Mehrheit von uns AWG-Mitgliedern angenommenen Vorschlag als “Proposal” am 31.10.2023 an das zuständige Gremium. Dies ist die Subkommission für Quartärstratigraphy (SQS, eine Untergruppe der Internationalen Kommission für Stratigraphie, ICS). Part 1 unseres Proposals (der GSSP-Vorschlag) umfasste 88 Seiten, Part 2 (Vorschlag für Standard-Auxiliary Sections) 46 Seiten. Dazu kamen noch 44 Seiten Anhang, und ein – von uns später, am 15.3.2024 auch veröffentliches –  Executive Summary für Part 1 , dies hatte nochmals 13 Seiten. Ganz schön viel, aber wir mussten ja die Ergebnisse aus fast 15 Jahren Forschung hier nochmals zusammentragen, synthetisieren und damit dann unsere Empfehlungen begründen. Wir erwarteten danach eine umfassende Diskussion mit der SQS, sowie ein detailliertes Feedback, und ja, wir hätten ggf. auch etliches noch eingearbeitet – so wäre das normale Prozedere gewesen. Die Einschätzung der SQS, egal ob positiv oder negativ, hätte dann auf dem 37. Internationalen Geologischen Kongress (diesmal in Busan, Südkorea) im August dieses Jahres dem geologischen Weltpublikum vorgestellt und ggf. weiter diskutiert werden sollen. Bei Bedenken hätte die SQS unseren Vorschlag auch schon jetzt an uns zurückgeben können, mit dem Auftrag bzw. Wunsch ihn ggf. zu modifizieren. Ja, und sie kann ihn natürlich auch komplett ablehnen, wie es nun passiert ist, allerdings eigentlich erst nach Diskussion und umfassender Begründung. Leider ist es aber ganz anders gelaufen.

Einige von uns haben in den Medien bereits dargelegt, warum wir die SQS-Wahl als prozedural inkorrekt, und damit wohl ungültig ansahen, hier dazu noch einige Erläuterungen:

  • Die SQS-Wahl erfolgte in großer Eile (normalerweise sind für solche Wahlen Wahlperioden von 4 Wochen vorgesehen, damit sich auch alle beteiligen können. Einer Wahlperiode sind normalerweise denen auch noch jeweils 4 Wochen Diskussionsmöglichkeit vorgeschaltet; so war es übrigens auch immer bei den Wahlen innerhalb der AWG).
  • Ungültig erscheint die Wahl insbesondere auch, weil sie am Vorsitzenden und Chair der SQS vorbei stattgefunden hat, obwohl diese ihr Veto eingelegt hatten. Beide verwiesen auf die Notwendigkeit einer weiteren Diskussion vor der Wahl sowie auf die Absicht, erst in Busan alles vorzustellen. Und ja, eigentlich ist es die Aufgabe des Vorsitzenden, eine Wahl anzusetzen oder halt eben noch nicht.
  • Des weiteren haben viele SQS-Mitgliedern abgestimmt, die nach den Statuten der ICS (siehe Term 9.2) gar nicht mehr abstimmungsberechtigt gewesen wären, da sie länger als 12 Jahre in der SQS waren. Sie dürfen weiterhin im Gremium dabei sein, aber nur noch als beratende Mitglieder ohne Wahlrecht. (Zur Info, auch bei der AWG dürfen längst nicht alle abstimmen, gerade weil wir eine recht interdisziplinäre Gruppe sind. Wahlberechtigt sind nur Mitglieder aus der Geologie und Paläontologie sowie direkt angrenzender Fächer (Geophysik, Geochemie etc ), derzeit insgesamt 23 von 34, die anderen 11 sind also beratend dabei).
  • Auch gab es keinerlei Begründung für das Ergebnis. Diese mussten wir den Medien entnehmen, die offensichtlich Informationen direkt von der SQS bekommen hatten. So erschien am 5.3.2024 der lange Artikel der New York Times quasi zeitgleich mit der Verkündung des Wahlergebnisses der SQS, er musste also vorbereitet gewesen sein.  Die dort sowie in anderen Medien aufgeführten Begründen erscheinen vielen vielleicht nachvollziehbar, aber all dies ist jahrelang erforscht und ausdiskutiert worden (siehe Kap. 2).
  • Teile unseres Proposals wurden auch einfach nicht behandelt (insb. Teil 2, siehe auch dazu Kap. 2).
  • Da es schon im Vorfeld etliches Bedenkliche von Seiten der SQS und der ICS gegeben hatte, war übrigens die zuständige Ethikkommission der IUCS (International Union of Geological Sciences, mit der ICS als größter Untereinheit) von uns eingeschaltet worden. Der Bericht dieser Geoethik-Kommission lag der SQS vor, wurde aber offensichtlich weder von der SQS, noch später von ICS und IUGS in irgendeiner Weise berücksichtigt. Zu all dem kann ggf. hier und hier (siehe Chair’s Column) und hier nachgelesen werden.
  • Aber inzwischen ging es ja noch weiter. So stimmten in einer scheinbar ganz kurzfristig von der ICS angesetzten Wahl dann auch noch alle anderen Subkommissionen (also zu Trias, Jura, Kreide-Zeit usw) ab. Das Wahlergebnis wurde uns in der AWG erst wieder nicht mitgeteilt, wir mussten es zuerst auf der Facebook-Seite der IUGS, dann auf der ICS-Eingangsseite finden – auf letzterer erinnert der der Link zum eigentlichen Statement sogar fast an eine Todesanzeige: das gemeinsames Statement von ICS und IUGS ist schwarz eingerahmt. Also war sogar das höchste Exekutivkommitee noch ganz flink mit drüber gegangen. Die Medien wussten dann auch gleich wieder Bescheid. Und am 25. März 2024 gab’s dann eben noch den Supergau: die ohne Vorankündigung vorgenommene, eingangs bereits erwähnte Löschung des gesamten Webauftritts der Anthropocene Working Group. Die SQS-Webseite erschien ebenfalls völlig neu. Darauf war dann ein kurzer Hinweis zur Abwahl des Vorschlags der AWG angegeben (mit 66% Neinstimmen), sowie das gemeinsame Kurzstatement von IUGS und ICS dazu. In den sozialen Medien gab es Entrüstung, aber dort wurden die Seiten im Internet-Archiv auch wieder ausgegraben. Am 27.3.2024 entdeckte ich, dass nun die alten Seiten interessanterweise auch offiziell wieder erreichbar sind – ‘Honni soit, qui mal y pense” –  , mal sehen, wie dies weitergeht.  

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