Kirchliche Ichhaftigkeit und ekklesiogene Neurosen


Raphael M. Bonelli, Psychiater und Psychotherapeut, sprach im Interview mit VISION 2000 über die Beziehung zwischen Psychotherapie und Religion.Graz (www.kath.net / vision2000) Sie haben vor kurzem an einem Podiumsgespräch zum Thema „Macht Religion psychisch krank?“ teilgenommen. Das Publikumsinteresse war enorm. Offensichtlich ein Thema, das die Menschen sehr bewegt.

Univ. Doz. Raphael Bonelli: Ich bin auch beeindruckt, wie groß das Interesse war. Da ist offenbar ein Tabubruch geschehen, dass wir wieder über solche Fragen reden können. Religiosität war nämlich in der Psychiatrie die längste Zeit tabuisiert…

Sie sprachen von Studien, die versuchen, den Einfluss von Religiosität zu messen. Kann man Religiosität überhaupt wissenschaftlich fassen?

Bonelli: Sämtliche Phänomene, mit denen wir es tun haben, sind schwer zu fassen. Wie kann man Stimmung oder Befindlichkeit fassen? Wir versuchen es mit Fragebögen. Ein Fragebogen, der im Jahr 2003 publiziert wurde, weist 150 Fragen rund um die Religiosität auf. Mit diesem Instrument kann man doch einiges erfassen. Es bleibt dennoch viel, was nicht messbar ist. Aber das ist nun einmal die Art, wie die Naturwissenschaft vorgeht. Ihr Zugang ist eben begrenzt und ihre Methoden sind schwach…

Wirkt sich Religiosität auf weitere Erkrankungen aus?

Bonelli: Auf Depressionen. Religiöse Menschen sind zwar auch depressiv, aber weniger tief und weniger lang. Religiöse Menschen sind leichter therapierbar. Das gilt für alle Formen der Depression. Man merkt es besonders bei alten Menschen: Religion gibt im Leben Halt und Sinn. Und der dritte Bereich sind die Süchte. Religiosität verursacht schon bei Jugendlichen einen vernünftigeren Umgang mit der Sexualität. Das ist klar erwiesen. Je früher Jugendliche mit Sexualkontakten anfangen, umso eher – da gibt es ganz neue Studien – neigen sie zu Kriminalität und zu Suchterkrankung…

Fördert also ein ungeordnetes Sexualleben die Tendenz zu Suchtmitteln?

Bonelli: Beides hängt zusammen. Man kann aber nicht sagen, das eine verursache das andere, sondern nur, dass die Phänomene häufig miteinander auftreten. Das belegen diese neuen Studien mit großen Fallzahlen.

Kann Religion krankmachen?

Bonelli: Eine heiße Frage. Es gibt den Terminus „Ekklesiogene Neurose“, der in kirchlichen – und zwar kirchenkritischen – Kreisen immer wieder propagiert wird. In der Psychiatrie selber verwendet niemand diesen Ausdruck. Ähnliches gilt für die Frage der Schädlichkeit religiöser Erziehung. Festgestellt werden muss nämlich, dass jede Art von Erziehung neurotisierend wirken kann.

Eltern machen immer etwas falsch. Es gibt keine perfekten Eltern. Was man aber daraus macht, ist dann entweder Neurose oder Gesundheit. Und damit sind wir bei der „Ekklesiogenen Neurose“: Manche Patienten sagen mir, sie seien nicht gläubig, weil sie in eine Klosterschule gegangen sind. Wenn ich dann näheres wissen will, kommen Beispiele, die an sich gar nicht so dramatisch sind. Ehrlich gesagt: Ich bin kein großer Freund dieser Art von Neurose.

Ausweichen, keine klaren Aussagen, früher Sex verstärkt die Anlagen zur Kriminalität, Alkohol, Drogen, Pillen, vielleicht auch Doping.