Von der Hoheit der Straße


Thomas Moser | Overton

Bild: F.R.

Wenn man sich Demokratie als einen Aufbau vorstellt, ein Gefüge, dann ist nicht das Parlament der erste Baustein, sondern die Straße. Wahlweise auch in Form des Marktplatzes. Sie und er bieten den Raum für die offene, ungehinderte Versammlung aller Menschen einer Stadt. Der Marktplatz ist die unmittelbare Öffentlichkeit – und die Voraussetzung für ein mögliches Parlament.

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die nicht einverstanden sind mit der tendenziösen und parteilichen Ausrichtung ihrer Arbeitgeber in Sachen Corona wie in Sachen Krieg fordern in einer öffentlichen Erklärung eine Erneuerung von ARD und ZDF. Bei der ARD-Anstalt SWR hat das dazu geführt, dass ein halbes Dutzend Rundfunk- und  Verwaltungsräte kürzlich das Gespräch mit den kritischen Mitarbeitern gesucht haben. Man könnte darin einen Versuch der Corona-Aufarbeitung sehen. Doch dann haben die SWR-Räte das Gespräch, so schnell wie begonnen, wieder beendet, weil es kein „öffentliches“, sondern nur ein „vertrauliches“ sein sollte. Sprich: Es sollte nicht darüber berichtet werden können (siehe: Angst vor Öffentlichkeit bei den Öffentlich-Rechtlichen).

Man könnte den Vorgang als eine Form von Ironie ansehen oder als Treppenwitz: Ein Medium, das dafür da ist, Öffentlichkeit herzustellen, verneint Öffentlichkeit.

Auf eine gewisse Weise passt der Vorgang in diese Zeiten programmatischer Chaotisierung und bewusster Verdrehung von Sachverhalten, in denen Desinformationen Fakten genannt und tatsächliche Fakten ignoriert werden, in denen sich rechts links nennt und Demokratiezerstörung Demokratieverteidigung genannt wird. Oder Einsperren zuhause Gesundheitsschutz heißt, und im Schützengraben sterben lassen Freiheit. Wo mit Hate speech gegen erklärten Hate speech vorgegangen wird und Gewalt beliebig ist. Die Verhinderung von Öffentlichkeit „Vertraulichkeit“ zu nennen, ist mindestens beschönigend.

Was ist „Öffentlichkeit“ und warum ist „Vertraulichkeit“ ihre Verneinung? Das ist nicht immer so klar. Auch in den Reihen der Erneuerer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) hat der Konflikt mit den Rundfunk- und Verwaltungsräten zu Differenzen in dieser Frage geführt. Dabei handelt es sich um eine der grundlegendsten Fragen einer demokratischen Gesellschaft überhaupt.

Ausgangssperre: Säuberung des öffentlichen Raumes

Öffentlichkeit – das ist außerhalb. Außerhalb von Häusern, Wohnungen, Zäunen, Mauern, Fabriken, Kliniken, Gefängnissen, Kasernen.

Die erste Corona-Maßnahme im März 2020 war, wir erinnern uns: die Ausgangssperre. So etwas hatte es bis dahin in dieser Bonner und Berliner BRD-Republik nicht gegeben. Die Ausgangssperre war die Verneinung der „Republik“, als einer Staatsform, die der Öffentlichkeit verpflichtet ist. Menschen, die auf einer Parkbank saßen und ein Buch lasen, wurden von der Polizei nach Hause geschickt. Warum? Nicht aus Gründen des Gesundheitsschutzes, sondern weil es dieses Bild, dieses Beispiel, nicht geben durfte. Es hätte ja Nachahmer finden können. Es hätte sich eine zweite Person auf die Bank setzen können. Das Ziel der ersten Corona-Maßnahme war also ein politisches: die Leerung des öffentlichen Raumes. Wie im Falle von Krieg war auch bei Corona die Wahrheit das erste Opfer.

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