Die Deutschen und ihre Justiz 1943-1948: Keine Stunde Null


Helmut Ortner | hpd.de

Es gehört zu den professionellen Gepflogenheiten der Verlagsbranche, dass neue Bücher beim Erscheinen mit Reklame rechnen dürfen, also mit Anzeigen, Buchhandels-Aktionen oder einem Auftritt bei Lanz. Es sind nicht immer die wichtigsten Bücher, die hier beworben werden. Vor allem öffentliche, verkaufsversprechende Titel, samt prominenter Autorenschaft werden mit Wucht und Elan „gepusht“. Verlagsprofis nennen so etwas „Book-Marketing“. Und dann gibt es Bücher – es sind nur wenige, ausgesuchte – die in den sogenannten „Leitmedien“, also in der FAZ, der NZZ, der Süddeutschen, im Spiegel oder der ZEIT vorgestellt und besprochen werden. Kurzum: vielen – wenn nicht den meisten Neuerscheinungen – ist das Schicksal beschieden, konsequent übersehen und ignoriert zu werden. Sachbücher haben es besonders schwer. Trotz erhellender Welt- und Wirklichkeitserklärung gelten sie beim Lese-Publikum aus tröge, langatmig und mitunter schwer verständlich. Ein Vorurteil, dass sich hartnäckig hält, seit es Bücher gibt. Grund genug also, für spannende, kenntnis- und erkenntnisreiche, gut und verständlich geschriebene Bücher „Reklame“ zu machen.

Von einem besonders aufklärenden und klugen Buch soll hier die Rede sein. Es ist bereits vor zwei Jahren erschienen, seither vielfach und einhellig lobend rezensiert – vor allem als Lese-Stoff für die juristisch akademische Zielgruppe gedacht. Titel: „Der Dienstbetrieb ist nicht gestört“. Der Rechtshistoriker Benjamin Lahusen hat es geschrieben, ein intellektueller Freigeist, der als Professor Bürgerliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Viadrina in Frankfurt/Oder lehrt. Es geht darin um die geradezu unheimlichen Kontinuitäten der deutschen Justiz zwischen 1943 und 1948, als das „Tausendjährige Reich“ in Schutt und Asche versank und bereits in Trümmern lag und Partei, Staat und Volksgemeinschaft dennoch alles taten, im großen Niedergang auf dem kleinen „Normalen“ zu beharren. Und so liefen – kaum beirrt von Bombenkrieg, Kapitulation und alliierter Besatzung – Gerichtsverfahren vor und nach 1945 einfach weiter, mit denselben Akteuren, nach den gleichen Regeln. Ob Nachbarschaftsstreits um die Kehrwoche, kleiner Diebstahl, oder unerlaubter Herrenbesuch – der juristische Alltags-Dienstbetrieb musste aufrechterhalten werden, ein Stillstand der Rechtspflege unter allen Umständen vermieden werden. Es galt, ein Justitium, so der Fachbegriff für den erzwungenen „Stillstand der Rechtspflege“, unbedingt zu vermeiden. Und so verrichteten die NS-Juristen ihre Arbeit im Schatten der Gewalt als wäre nichts passiert. Beispielsweise in Stuttgart, im September 1944: Das Justizgebäude wird dort durch neun Sprengbomben und zahlreiche Brandbomben weitgehend zerstört, doch stolz meldet der Generalstaatsanwalt, dass bereits am nächsten Morgen „noch in den Rauchschwaden… eine Reihe von Strafverhandlungen durchgeführt“ wurden. Auch andernorts wird der Dienstbetrieb in teils noch brennenden Gebäuden aufrechterhalten, selbst unter Artilleriebeschuss. Gesetz ist Gesetz. Befehl ist Befehl.

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