Wir retten Menschenleben mit Menschenleben, ohne darüber zu verhandeln


In der Corona-Berichterstattung werden von Anfang an Meinungen mit Fakten verwechselt. Deshalb war eine demokratische Diskussion sinnvoller oder notwendiger Maßnahmen nie möglich. Kommentar

Timo Rieg | TELEPOLIS

Es gibt tatsächlich eine Corona-Lüge, die uns von Anfang an begleitet, und die von den Medien bereitwillig als Faktum genommen wurde, nicht aus Demagogie heraus, sondern schlicht mangels Recherche. Die Lüge – oder ohne unterstellten Vorsatz: die falsche Behauptung – lautet: Wir müssen alles tun, um Erkrankungen mit dem Corona-Virus zu vermeiden, und wir müssen alles tun, um Erkrankten zu helfen.

Diese Behauptung gibt es in zig Variationen, und sie ist die Grundlage sowohl für den staatlichen Infektionsschutz als auch für die bürgerliche Empörung über jeden, der irgendwo einen kritischen Gedanken, gar nur eine Frage kundtut: Wer nicht bereit ist, dem Schutz des Lebens alles andere unterzuordnen, ist ein „Mörder“. Oder wenigstens ein gemeingefährlicher Egoist.

Einen Höhepunkt erlebt dieses Credo gerade mit der Erregung über Boris Palmer, der es wagte, ein Nachdenken darüber anzuregen, was der Corona-Schutz weit außerhalb der Pandemie bedeuten könnte, so rein vom Überleben her.

Diese falsche Behauptung gibt es keineswegs erst seit der „Corona-Krise“. Ob Jungpolitiker etwas Kritisches zur Gesundheitspflege im Alter sagen oder jemand fragt, welche Flüchtlingspolitik unterm Strich am humansten ist: mit der Behauptung, der Lebensschutz sei nicht nur oberste, sondern auch im Ausmaß unverhandelbare Staatsaufgabe, wird jeder Zweifel als menschenverachtend geächtet (und zwar durchaus wörtlich, wenn wir uns anschauen, mit welcher verbalen Energie die zu Menschenfeinden erklärten Menschen von Menschenfreunden bekämpft werden).

Doch stimmt die Grundannahme überhaupt, die Behauptung, „der Staat“ oder „die Gesellschaft“ müssten alles tun, was irgendwie möglich ist, um Menschen vor einer Virusinfektion zu schützen?

1. Faktisch ist die Welt anders

Empirisch finden wir mit jedem Blick das Gegenteil. Denn es sollte unstrittig sein, dass auch in einem Land wie diesem längst nicht alles getan wird, damit alle Menschen möglichst gesund und lange leben (wobei schon diese beiden Ziele zusammenzubringen ein Kunststück ist). Schon bessere Ernährung würde vielen Einwohnern auf lange Sicht gesundheitlich helfen.

Kinder und Jugendliche wären fitter, müssten sie weniger sitzen und könnten sich mehr und vielfältig bewegen. Vorsorgeuntersuchungen könnten praktisch beliebig gesteigert werden (und die Ärztewirtschaft hätte ihre Freude daran, uns alle einmal wöchentlich von oben bis unten durchzuchecken).

Einzelzimmer statt Mehrbettzimmer im Krankenhaus (was jedes billige Hostel hinbekommt) würden selbstverständlich Infektionen verringern (und in sicherlich nicht wenigen Fällen auch die psychische Gesundheit fördern – neben Sterbenden zu genesen ist gar nicht so einfach; aber natürlich mag die Gesellligkeit für viele auch gewinnbringen sein, hier zählt allein: die teurere Option gibt es gar nicht).

Dass jetzt für COVID-19-Patienten alle Krankenhäuser umgebaut wurden ist ja nicht dem neuen Virus geschuldet, sondern der Tatsache, dass Krankenhäuser natürlich noch längst nicht gesundheitsfördernd maximiert sind, da ist noch jede Menge Platz nach oben, die vielen Krankenhausinfektionen, bei denen wir meist nur recht lapidar von den rund 20.000 Toten pro Jahr reden und nicht von allen überlebten Komplikationen, sind wohl ein schlagendes Indiz.

Jeder, der den Medizinbetrieb kennt, kann ein Buch mit Geschichten von Pfusch am Bett schreiben, von Fehlbehandlungen, Schlampereien, desaströser Unwissenheit, natürlich auch von Grabscher*innen, kurz: davon, wie hanebüchen weit entfernt wir in vielen Einzelfällen, aber auch strukturell von einer optimalen Gesundheitsversorgung sind.

Diese Probleme sind alle bekannt. Doch setzt „der Staat“ nun all „seine Kraft“ daran, jedes Defizit zu beheben, auf dass die maximal mögliche Gesundheitsversorgung und damit ein gesundes und langes Leben für jeden gewährleistet ist?

Nein, natürlich nicht. Schon die „vorhandenen Mittel“ müssten ja anders verteilt werden, es dürfte keine steuerfinanzierten Theater geben und keine Blumenrabatten in der Stadt. Lehrer, Polizisten und Politiker müssten weniger verdienen, um die öffentlichen Finanzen nicht ihrer privaten Prioritätensetzung anheimzustellen, sondern jeden möglichen Cent dem Lebensschutz zuzuführen. Jeder kann das selbst weiter karikieren. Es ist so fürchterlich offensichtlich, dass der Lebensschutz de facto nicht über allem steht. Die Tatsachenbehauptung ist also Riesenunsinn.

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