Verschafft die Religion Menschen Überlebensvorteile?


Evolutionsbiologe Boyer als Fellow in Frankfurt

Ulrike Jaspers, Marketing und Kommunikation
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt (Main)

FRANKFURT. Haben religiöse Menschen einen Vorteil, den sie lebensstrategisch nutzen können? Haben Religionen eine positive Rolle in der Evolution des Menschen gespielt? Oder sind Religionen eher ein Nebenprodukt der Evolution, ohne erkennbaren Sinn und Funktion? Hatten sie vormals eine Funktion, die inzwischen überflüssig geworden ist? Unterliegen Religionen vielleicht selbst der Evolution – schließlich sind auch viele Religionen bereits ausgestorben? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der international renommierte Evolutionsbiologe und Ethnologe Prof. Pascal Boyer von der Washington University, St. Louis, der mit seinem Buch „Und Mensch schuf Gott“ 2004 auch einer breiten deutschen Öffentlichkeit bekannt wurde. Er wird vom 6. bis 18. Mai als Fellow der „Templeton Research Lectures“, die vom Institut für Religionsphilosophische Forschung der Goethe-Universität veranstaltet werden, an der Universität Frankfurt seine evolutionsbiologischen Theorien von Religion zur Diskussion stellen.

Boyer spannt einen Bogen von der Hirnforschung über die Neurobiologie zur Sprachforschung, Psychologie, Evolutionsforschung bis hin zu den Religionswissenschaften. Die Kenntnisse darüber, wie sich das Gehirn im Laufe der Evolution entwickelt hat, bezieht der gebürtige Franzose auf das religiöse Verhalten der Menschen. Nach seinen Forschungen kam Religion während der letzten Eiszeit, also vor 50000 Jahren, zunächst in Europa auf, zeitgleich mit dem Kunsthandwerk. „Was wir Religion nennen“, schreibt Boyer, „entstand vermutlich zusammen mit dem menschlichen Geist in seiner heutigen Gestalt, ausgelöst durch eine plötzliche Veränderung in der geistigen Tätigkeit“. Religion, so Boyer, kann sich erst auf einem hohen komplexen Niveau der Hirnentwicklung einstellen.

Religionen allgemein deutet er als ein hilfreiches Konstrukt des menschlichen Geistes, das dem Menschen in einer spezifischen Lebenssituation („kognitive Nische“) Überlebensvorteile verschafft. Boyer hat dazu den Begriff der „intuitiven Ontologie“ geprägt: In der langen Geschichte des menschlichen Überlebenskampfes innerhalb der Evolution hat der Mensch Strategien entwickelt, unmittelbar, also ohne vollständigen Überblick über die Situation und ohne vollständige Kenntnis, angemessen zu agieren oder zu reagieren. Dass die Religion so wichtig für den Menschen werden kann, hat seinen Grund darin – so Boyer, „dass sie Erkenntnissysteme aktiviert, die lebenswichtig für uns sind, weil sie unsere stärksten Emotionen steuern, unseren Austausch mit anderen prägen, uns moralische Empfindungen eingeben und maßgebend für die Gruppenbildung sind“.

Allerdings ist sein Versuch, Religion aus evolutionärer Perspektive herzuleiten, in der Theologie nicht unumstritten. Inwieweit lassen sich tatsächlich Religionen ganz ohne Transzendenz aus der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns erklären? Gerade aus der Sicht der christlichen Theologie, in der die Transzendenz Gottes und seine Inkarnation entscheidend sind, dürfte diese Sicht nicht unproblematisch sein. Zudem ist der christliche Glaube gerade in Abgrenzung zu „naturalistischer Religiosität“ entstanden. Mit gehöriger Skepsis betrachtet auch der angesehene Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf Boyers Thesen. Als „entscheidende Schwäche“ identifiziert Graf Boyers Schwierigkeiten, religiöse Bilder von Tod und Leben mit den ihnen zugeschriebenen rituellen Praktiken zu deuten. Das vernachlässige sowohl die „prägnanten Gehalte“ religiösen Bewusstseins als auch die starken Gefühle, die in diesen Riten geäußert würden. Graf lässt in seiner Kritik Boyer stellvertretend für alle Neurowissenschaftler eine Warnung vor den „dunklen Wassern“ zukommen, auf denen sie mit ihren „windschnittigen Wissenschaftsjachten“ herumschippern.

Mit der Frage nach einer Funktion der Religion im evolutionären Prozess der menschlichen Stammesgeschichte hebt sich Boyer deutlich von den negativen Bewertungen religiösen Verhaltens sowohl der Religionskritik des 19. Jahrhunderts als auch der aktuellen aggressiven atheistischen Attacken ab, wie sie etwa Richard Dawkins in seinem Buch „Der Gotteswahn“ vorbringt. Die Vertreter des positivistischen Wissenschaftsideals des 19. Jahrhunderts (Auguste Comte, Ernst Haeckel, Wilhelm Ostwald) beurteilten Religion als eine überwundene Vorstufe des wissenschaftlichen Fortschritts. Zeitgenossen, die immer noch der Religion anhingen, seien daher ein hinterwäldlerischer Anachronismus. Auch die philosophische Religionskritik, etwa Ludwig Feuerbachs oder Karl Marx‘ („Religion ist Opium des Volkes“) betrachtete Religion als eine bereits überwundene Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes, die im Zuge des gesellschaftlichen Fortschritts bald „absterben“ würde. Sigmund Freud schließlich meinte diagnostizieren zu müssen, dass Religion die Menschen neurotisch mache und man sie daher von dieser Krankheit heilen müsse.

Boyers Gastaufenthalt in Frankfurt beendet die „Templeton Research Lectures“ in Frankfurt. Über drei Jahre stellte die Templeton Foundation dem Institut für Religionsphilosophische Forschung (IRF) der Johann Wolfgang Goethe-Universität fast 280000 Euro zur Verfügung, die noch um Landesmittel in Höhe von fast 50000 Euro aufgestockt wurden, um im Dialog mit den Naturwissenschaften Antworten auf Fragen zum menschlichen Bewusstsein und zu den materiellen Bedingtheiten unseres Denksystems zu finden. Über den Kooperationsvertrag ist auch der Fachbereich Evangelische Theologie Gießen, der das Gesamtkonzept der Lectures mitgestaltet hat, eingebunden. In den vergangenen zwei Jahren standen folgende Themen im Mittelpunkt: „Beherrscht die Materie den Geist? Neurowissenschaften und Willensfreiheit“ und „Biofakt oder Artefakt? Auf dem Wege zu einem neuen Begriff des Lebens“. Die Ergebnisse werden in Buchform veröffentlicht, das erste Buch von Philip Clayton „Die Frage nach der Freiheit. Biologie, Kultur und die Emergenz des Geistes in der Welt“ liegt bereits vor. Die Foundation fördert globale Initiativen, die sich mit Grenzfragen zwischen Theologie und Naturwissenschaften auseinandersetzen.

Programm der Vortragsreihe „Is there a Science of Religion?“
1. Öffentliche Vorlesung: Dienstag, 6. Mai 2008, 18 Uhr, Religious thought and behavior as a by-product of brain function, Einführung Prof. Dr. Jürgen Bereiter-Hahn (Frankfurt), Casino Gebäude, Campus Westend, Raum 823
2. Öffentliche Vorlesung: Mittwoch, 7. Mai 2008, 19 Uhr, Religious thought and behavior as a by-product of brain function, Margarete Bieber Saal, Justus Liebig Universität, Ludwigstraße 34, Gießen
3. Öffentliche Vorlesung: Donnerstag, 8. Mai 2008, 18 Uhr, Why religious rituals?, Casino Gebäude, Campus Westend, Raum 823
4. Öffentliche Vorlesung: Dienstag, 13. Mai 2008, 18 Uhr, Religious thought and adaptive imagination, Casino Gebäude, Campus Westend, Raum 823, mit Diskussionsbeitrag von Prof. Dr. Matthias Jung, Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
5. Öffentliche Podiumsdiskussion zwischen Prof. Dr. Pascal Boyer und Prof. Dr. Niels Gregersen, (Kopenhagen): Donnerstag, 15. Mai 2008, 18 Uhr, Is religion explained by Darwinian evolution? Alte Aula, Campus Bockenheim, 20 Uhr: Festliches Abschlusskonzert von Stefan Mikisch, The evolution of religious consciousness in music: From Bach to Wagner
6. Öffentliche Vorlesung: Freitag, 16. Mai 2008, 18 Uhr, Is religion explained by Darwinian evolution? Margarete Bieber Saal, Justus Liebig Universität, Ludwigstraße 34, Gießen, im Anschluss eine Antwort von Prof. Dr. Dr. Ina Wunn (Bielefeld), Religion and Evolution – Aspects of Neuroscience, Culture and Evolution
(Zusammenfassungen der Lectures auf Deutsch werden in den Vorlesungen ausgelegt)

Nähere Informationen: Prof. Dr. Elisabeth A. Graeb-Schmidt, Direktorin des Instituts für Religionsphilosophische Forschung an der Goethe-Universität, E-Mail: Elisabeth.A.Graeb-Schmidt@theologie.uni-giessen.de; Koordinator des Programms: Dr. habil. Wolfgang Achtner, Lehrbeauftragter Theologie-Naturwissenschaft, Universität Gießen, E-Mail: info@wolfgangachtner.de

Weitere Informationen:
URL dieser Pressemitteilung: http://idw-online.de/pages/de/news254790

Merkmale dieser Pressemitteilung:
Biologie und Biotechnologie, Medizin und Gesundheitswissenschaften, Psychologie, Religion und Philosophie
überregional

1 Comments

  1. Oh fein, danke für den Hinweis. Wenn noch jemand einen der Vorträge zu besuchen gedenkt, möge er mich darauf hinweisen, dann könnte man sich in FFM mal treffen.

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