Was ist eine Verschwörungstheorie?


Michael Anton und Alan Schink über „Schwurbler“ und reale Verschwörungen, über die zunehmend systematische Kontrolle von Information und die Bedrohung der aufgeklärten Informationsgesellschaft

Harald Neuber | TELEPOLIS

Ausschnitt des Covers des Buches „Der Kampf um die Wahrheit: Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten“ von Michael Anton und Alan Schink

Man mag es kaum glauben, aber der Bayerische Rundfunk hat, wie Sie in Ihrem Buch Der Kampf um die Wahrheit: Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten schildern, die Bedrohung durch den Corona-Virus als Verschwörungstheorie bezeichnet. Was hat es damit auf sich?

Alan Schink: Am 30. Januar 2020 kommentierte der Journalist Christoph Süß in der politischen Satiresendung quer im Bayerischen Rundfunk unter dem Titel „Wie ein Virus die Vernunft zerstört“ die in den sozialen Medien zu dieser Zeit kursierende Angst vor dem neuen „Wuhan-Virus“ mit folgenden Worten: „Wer die Apokalypse zum Maßstab seines Denkens macht, der schlägt Maßnahmen zu deren Verwirklichung vor.“

Süß mokierte sich über „rechte Trolle im Netz“, die aufgrund der zunehmenden Verbreitung der neuartigen Krankheit fordern, die Grenzen zu schließen. Zynisch sinniert er über das, was einige Wochen später als „Lockdown“ Teil der pandemischen Normalität wird: „Nehmen wir den hier implizit gemachten Vorschlag doch mal ernst. Was wäre, wenn man die Grenzen schließen würde? Vorteil: Keine Ausländer kommen mehr rein. (…) Nachteil: Kein Verkehr mehr, Flugzeuge bleiben am Boden, Züge fahren nicht, quasi Generalstreik, die Wirtschaft erlahmt, Krise – und schon hätte man genau das, was man draußen halten will: das Desaster.“

Heute ist eine Aussage wie diese in einem öffentlich-rechtlichen Medium kaum mehr vorstellbar. Sie würde als Corona-Leugnung gebrandmarkt.

Doch Angstmache vor dem Virus hält der BR-Journalist Ende Januar 2020 noch für eine reine „Paranoia-Produktion“ rechter Youtuber, er spricht sogar von „Endzeit-Psychosen“. Am Schluss des kurzen Beitrags fragt er sich und das Publikum: „Warum sind so viele so leicht mit Verschwörungstheorien zu infizieren?“

Der Bayerische Rundfunk hat diese Sendung – wie auch alle Hinweise darauf – mittlerweile von seiner Webpräsenz gelöscht. Im Internet-Archiv findet sich allerdings noch ein Statement zur Löschung der Sendung. Dort heißt es: „Die Faktenlage hat sich geändert. Handlungsempfehlungen, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Kommentars richtig waren, sind heute nicht mehr richtig.“

Sie schlussfolgern, Verschwörungstheorien sind kontextabhängig. Was heute „Geschwurbel“ ist, wird morgen Konsens – und andersherum?

Michael Anton: So ist es. Was gestern als Verschwörungstheorie galt, kann heute als reale Verschwörung gesehen werden. Was wir heute als echte Verschwörung betrachten, kann sich morgen als bloße Verschwörungstheorie entpuppen.

Den größten Einfluss auf das, was in modernen Gesellschaften mehrheitlich als „wahr“ oder „wirklich“ betrachtet wird, haben die Systeme Politik, Medien und Wissenschaft. Wenn eine Verschwörungstheorie in keinem dieser Bereiche kommuniziert und als „wahr“ – d. h. als ernstzunehmend oder rational – betrachtet wird, hat sie im Prinzip keine Chance, den Weg zu einer „realen“, d. h. gesellschaftlich anerkannten Verschwörung zu schaffen.

Wichtig ist: Bei Verschwörungstheorien gibt es mindestens zwei verschiedene Wahrheitsebenen. Die eine Ebene ist die der faktischen Realität: Gibt es handfeste Belege, die für den Tatbestand einer Verschwörung sprechen oder nicht?

Hannah Arendt spricht von ‚Tatsachenwahrheiten‘. Die andere Ebene ist die der sozialen Wirklichkeit. Hier kommt es vor allem darauf an, wie viele Menschen und welche sozialen Instanzen eine Verschwörung für real halten und welchen Einfluss dies auf eine Gesellschaft hat. In vielen Fällen stimmen die beiden Ebenen nicht überein.

Ein Beispiel: Die Behauptung, dass der Irak im Jahr 2003 über Massenvernichtungswaffen verfügte, ist faktisch falsch, war aber für die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung eine soziale Realität – und ein legitimer Kriegsgrund.

In der Tat hat die „Laborthese“ über die Herkunft von Sars-CoV-2 seit Beginn der Pandemie mehrfach die Seiten gewechselt. Zuletzt wurde sie wieder als seriöse Theorie geadelt, von US-Präsident Joe Biden. Hat die Wahrheit inne, wer die politische Macht hat?

Michael Anton: Politische Macht allein reicht nicht aus, ist aber im Prozess der sozialen Konstruktion dessen, was innerhalb einer Gesellschaft für „wahr“ gehalten wird, ein sehr wichtiger Faktor.

Auch Ex-US-Präsident Donald Trump hat immer wieder auf die mögliche Herkunft des Corona-Virus aus dem Labor verwiesen, dies jedoch wurde von deutschsprachigen Leitmedien nicht in der Weise ernst genommen, wie es später bei Biden der Fall war.

Es war für uns überaus interessant, zu beobachten, wie sich die Labor-Ursprungs-Hypothese im öffentlichen Diskurs in Deutschland von einer „kruden“ Verschwörungstheorie zu einem ernstzunehmenden Szenario entwickelte.

Hierbei spielten die Äußerungen von Biden eine wichtige Rolle. Er genießt bei vielen Medienvertretern in Deutschland augenscheinlich einen Vertrauensvorschuss, seine Aussagen haben ein stärkeres Gewicht als die von Trump.

weiterlesen