Das Totalitäre als letzte Chance des Kapitalismus: Agambens ignorierte Warnungen


Der renommierte italienische Intellektuelle wurde in der Corona-Krise gecancelt – doch seine Zeitdiagnose um Biopolitik und Ausnahmezustand ist noch immer alarmierend (Teil 2 und Schluss).

Philipp Fess | TELEPOLIS

Grafik: TP

Die Schelte ließ nichts aus: Er gebe „Verschwörungstheorien“ wieder, streue „Desinformation“, er „hört sich an wie ein rechter Spinner“, „die letzten zwei Jahre verkehren sein intellektuelles Vermächtnis“ (Übersetzer Adam Kotsko) – und, ein besonderes Juwel: „Jetzt müssen wir ihn und die Philosophie vor seinen Verschwörungstheorien retten.“ (Philosophin Donatella Di Cesare)

Selten wurde ein Intellektueller so schnell und so tief fallengelassen wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben in der Corona-Krise. Selbst enge Freunde wie sein inzwischen verstorbener Kollege Jean-Luc Nancy versagten ihm die Unterstützung und halfen mit, das Bild des Wissenschafts-Leugners zu zeichnen – gerade Nancy, der die (erneute) Thematisierung von Heideggers Hang zum Nationalsozialismus für einen übertriebenen Akt der Political Correctness hielt.

Teil 1: Dauer-Krise als Mittel zur Transformation: Die gefährlichen Gedanken von Giorgio Agamben

Der politisch verseuchte Corona-Diskurs infizierte auch die deutschen Medienberichte über Agamben: Weil die aus der Querdenker-Bewegung heraus entstandene Zeitung Demokratischer Widerstand Agamben als Mitherausgeber nannte und sich das als rechtsextrem geltende Monatsmagazin Compact auf zwei seiner Texte berief, sprach das laut Verfassungsschutz linksextremistische Magazin konkret dem italienischen Intellektuellen die Fähigkeit ab, genuiner Antifaschist zu sein – gerade Agamben, der sein gesamtes Leben der Analyse des Faschismus widmete, um den berüchtigten Anfängen zu wehren.

Dabei war Agambens Reaktion auf die Corona-Krise abzusehen. Im Unterschied zu Geistesgrößen wie Jürgen Habermas oder Noam Chomsky ist Agamben seinen Prinzipien treu geblieben (siehe Teil 1). In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wurde die Behauptung aufgestellt, diejenigen, die Agamben unterstützten, hätten wohl nie „eine Zeile seines Werks gelesen“. Offensichtlich sind es eher seine Kritiker, die mehr hätten lesen sollen.

Diese stürzten sich vor allem auf Agambens ersten von zahlreichen Einwürfen, die er auf dem Blog seines (bis heute loyalen) Hausverlags Quodlibet veröffentlichte. Der Text trug den Titel „Erfundene Pandemien“.

Falsche Verurteilungen und tatsächliche Neuerfindungen

Wohlgemerkt: Wir schreiben den 26. Februar 2020, die Inzidenzzahlen werden noch als belastbare Datengrundlage herangezogen. Finanzielle Fehlanreize zur Hospitalisierung wurden noch nicht gerügt, tödliche Falschbehandlungen noch nicht offengelegt, Wirksamkeit und Kollateralschäden von Isolationsmaßnahmen nach chinesischem Vorbild noch nicht in Zweifel gezogen. Nein, Zweifel waren 2020 noch nicht erlaubt.

In seinem Erbsünde-Text beging Agamben den Hochverrat, die Erkrankung Covid-19 aufgrund von 80 bis 90 Prozent Überlebensrate, zehn bis 15 Prozent Lungenentzündungen und vier Prozent Intensivbehandlungen in der Gesamtzahl der Fälle – übrigens Zahlen, die bis heute nicht dramatischer oder sogar weitaus weniger dramatisch sind – mit der saisonalen Grippe zu vergleichen.

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