Mit Darwin gegen Determinismus


Prof. Dr. Oswald schwemmer, Quelle: philosophie.hu-berlin.de
Prof. Dr. Oswald Schwemmer, Quelle: philosophie.hu-berlin.de

Evolution ist überall

Von Oswald Schwemmersueddeutsche.de

Die Diskussion um die menschliche Freiheit schlägt immer wieder hohe Wellen. Auf der einen Seite finden wir die unverbrüchlich an die Freiheit Glaubenden, auf der anderen Seite die Deterministen. Auf der einen Seite hören wir den Hinweis auf unsere Erfahrung, auf der anderen die Berufung auf die Gesetze der Wissenschaften. „Alles, was geschieht – sei es in unserem Gehirn oder in einem weit entfernten Spiralnebel – hat eine Ursache. Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen.“ So etwa könnte man die „wissenschaftliche“ Weltsicht des Determinismus charakterisieren. So argumentieren etwa manche Hirnforscher.

Und Charles Darwin? Darwin spricht mit großer Selbstverständlichkeit (in seinem Werk „Die Abstammung des Menschen“ von 1871) von „Tätigkeiten, welche mit Hilfe des freien Willens ausgeführt werden“ und von der „freien Intelligenz“. Und er würde noch einen Schritt weitergehen und den Determinismus schon für das Verhalten der Tiere ablehnen. Zur Begründung führt er die Beobachtungen an, die er selbst oder seine Zeugen angestellt haben. Und noch einen Schritt weiter: Wie kann es eine Evolution geben, wenn gleiche Ursachen immer gleiche Wirkungen haben? Wie kann Neues entstehen und insbesondere Neues von höherer Komplexität?

Unsere Deterministen haben solche Fragen bisher nicht beeindruckt. Mit dem Hinweis auf den Mangel an Wissen, der – wie wir wiederum wissen – niemals überwunden werden kann, kann man, so scheint es, alle Gegenargumente abwehren: Wüssten wir alles über den jetzigen Weltzustand, könnten wir den nächsten voraussagen. Da wir dies aber nicht wissen, kann man – so scheint es – den Determinismus weder beweisen noch widerlegen. Was soll man dann also überhaupt noch weiter diskutieren?

Tatsächlich kann man aber einen anderen Gedankenweg gehen, der die Pauschalfassungen deterministischer Argumente auf ihre Details hin untersucht. Mit dem Blick auf die Evolution – und zwar im weitesten Sinne einer kosmischen, terrestrischen, organischen, psychischen, sozialen und kulturellen Evolution – haben Philosophen wie Henri Bergson und Alfred North Whitehead die „schöpferische Entwicklung“ unserer Welt zu begreifen versucht. Ihr Ehrgeiz war es, nicht erst wie Darwin die Selektion, sondern schon die – für Darwin zufällige und nicht erklärungsbedürftige – Mutation als ein sich selbst strukturierendes Ereignis zu verstehen. Dabei ging es keinesfalls um eine innere Zweckgerichtetheit, eine „Entelechie“. Es ging um das Verständnis einer Mutation als Systembildungsprozess, um eine immanente Strukturierung, in der sich ein neues System bildet.

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Der Autor ist Professor für philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität.

6 Comments

  1. Schwemmer

    Man kann dieses Beispiel verallgemeinern auf Evolutionsprozesse überhaupt. Die Entstehung eines Neuen – einer anders und womöglich komplexer organisierten Struktur – ergibt sich nicht schon aus den Anfangsbedingungen des entsprechenden Verlaufs, sondern erst in dem Verlauf selbst, der sich metaphorisch als ein Resonanzverhältnis zwischen seiner eigenen Organisation und den jeweiligen Umgebungsverhältnissen beschreiben lässt. Und so, wie Resonanz als ein sich selbst erzeugendes Dauern, als eine Art Selbstverstetigung des Tönens und Klingens verstanden werden kann, so bilden diejenigen in unserer Welt sich bildenden Strukturen ein Neues, die sich aufgrund ihres Selbstverstetigungspotentials erhalten – und damit auch in die Umgebungsfelder der übrigen Weltverläufe eingehen.


    Ob er hiermit richtig liegt, mögen die Evolutionsexperten unter uns beurteilen.

    Gegen den Determinismus als ontische Gegebenheit spricht dies alles nicht. Seine Argumente greifen nur gegen den Determinismus als physikalisches Programm. Diese Variante vertritt aber ohnehin niemand (mehr), es sollte mittlerweile jedem Naturwissenschaftler klar sein, dass seine Gesetzesaussagen prinzipiell für modellhafte Strukturen gelten, für Wirklichkeitsausschnitte (reale Systeme) dagegen nur insofern, wie sie mit diesen Modellen isomorph sind (was wir am pragmatischen Erfolg von Theorien feststellen zu können hoffen, aber niemals sicher wissen).

    Schwemmer führt hier also ein Scheingefecht gegen einen längst in Frieden ruhenden Gegner.

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  2. Ich habe den Artikel von Oswald Schwemmer leider nicht verstanden. Man kann ja auch annehmen, dass im Gehirn Zufallsprozesse ablaufen („Mutationen“ quasi), auf die ich willentlich keinen Einfluss habe, die dann aber mein Denken, meine Wünsche etc. hervorbringen. Wieso ist man mit einer solchen Vorstellung Determinist?

    Auch der genetische Code ändert sich „zufällig“ durch Mutationen und andere Vorgänge. Gleiche Genome würden aber praktisch gleiche Individuen hervorbringen (bei ähnlichen Lebensumständen). Kein Mensch würde eine solche Auffassung deterministisch nennen.

    Problematisch fand ich die Ausweitung des Evolutionsbegriffs auf das ganze Universum. Im Universum gilt der Entropiesatz, und ich denke, damit ist Evolution ausgeschlossen.

    Mersch legt in „Evolution, Zivilisation und Verschwendung“ nahe, dass nur das Leben (Identität Lebensraumkompetenzen [Fitness], Reproduktionsprozess, Reproduktionsinteresse) evolvieren kann. Mit den Kompetenzen werden Ressourcen aus dem Lebensraum erlangt, mit deren Hilfe das Entropiedilemma (temporär) überwunden werden kann. Allerdings sind für ihn auch die modernen Unternehmen „Lebewesen“ (Superorganismen), die entsprechende Eigenschaften in ihrem Lebensräumen – den Märkten – besitzen und dadurch z. B. die moderne Technik hervorbringen. Er hält deren Reproduktionsinteressen (auf den Märkten) für die Hauptursache der globalen Katastrophe, auf die wir zusteuern (und nicht die Eigeninteressen von Menschen).

    Ich halte seine Auffassung für plausibel. Evolution wird nicht durch passive Anpassung (natürliche Selektion) an einen Lebensraum bewirkt, sondern aktiv durch Reproduktionsinteressen. Evolution setzt Eigeninteressen voraus (deshalb nennt Dawkins Gene egoistisch, spricht Darwin vom Kampf ums Dasein oder einem exponentiellen Wachstum von Populationen, etc.). Evolutionen, die keinen externen Schöpfer besitzen, benötigen interne Schöpfer, nämlich Individuen mit ihren Eigeninteressen. Wo es am Eigeninteresse fehlt (Sonne, Mond und Sterne), regieren physikalische Gesetze. Mit Evolution hat das nichts zu tun. Evolution begann erst mit dem Leben. Ist jedenfalls meine Meinung.

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  3. Daß Charles Darwin von einer „freien Intelligenz (!)“ spricht, dokumentiert einmal mehr die Behutsamkeit und Präzision seines Denkens. In diesem Zusammenhang ist es für mich als Lutheraner selbstredend von besonderem Interesse, daß es auch innerhalb der reformatorischen Tradition die Auffassung eines liberum arbitrium – eines freien Willen – gibt, eben bemerkenswerterweise im Hinblick auf die Vernunft, indes nicht im Bezug auf den Existenzgrund als Handlungsfreiheit in ihrer Grundbedeutung als Vermögen des Menschen, sich als einen und ganzen zu vollziehen. Besagtes Vermögen ist nach reformatorischer Auffassung mithin primär in der incurvatio in se ipsum – der Selbstverkrümmung des Subkekt – unfrei. Sind wir also frei? Ja. Krankhaft frei. Wie auch immer, vielen Dank für diesen sehr interessanten und anregenden Text!

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