Der nette Jesus und der Schuft Christus


Twins J. and Ch.
Buch-Cover

Gesucht wird: die dem 21. Jahrhundert und webbasierten Info-Überangebot angemessene Form unterhaltender Auseinandersetzung mit ernsthaften Fragen. Seien diese Themen weltanschaulicher, sozialer oder naturwissenschaftlicher Art. Solche Diskussionen finden in der Gegenwart kaum statt. Denn – geben wir es ruhig zu – sie sind den meisten Leuten zu anstrengend.

Heute habe ich ein Beispiel gefunden, wo es via Literatur und Rezension einmal „funzt“: den von Ali Arbia alias Zoonpolitikon auf Scienceblogs besprochenen Satireband des Schriftstellers Philip Pullman: The Good Man Jesus and the Scoundrel Christ (Canongate 2010). 

Ein großes Thema: wie eine anfangs vielleicht durchaus menschenfreundliche Idee durch ihre realpolitische „Umsetzung“ und Neuinterpretation zu einer deutlich anderen, hässlichen Konzeption wurde. Das Nämliche was mit Karlchen Marx, der spd, der grünen Partei und in den meisten schiefgehenden Ehen passierte, ist, falls ich Pullman nicht fehlinterpretiere, auch beim ollen Jesus geschehen. Beim Übergang zwischen Jugendgestalt (Jesus, Lichtgestalt) und Altersgestalt (Christus, Schatten) ist der ursprünglich vielleicht vorhandene Charme ranzig geworden. Vorsicht allemal, ich interpretiere hier freihand, also ohne das Buch selber in Händen gehabt zu haben.

Pullman spaltete die große Kunstfigur des Christentums, Jesus Christus, auf in zwei als Zwillinge geborene Protagonisten (J. und Ch.). Das ist ein verdammter Trick. Leser von Schmidt-Salomons aktuellem Buch kennen diese fatale Aufspaltung in „Gut“ und „Böse“, die im realen Leben so viel religionsverursachtes Elend produziert.

Aber andererseits erzeugt gerade die Sichtbarmachung dieses zumal in der Satire-Literatur legitimen Tricks sowohl Erkenntnis als auch eine Menge Spannung. Wohlgemerkt, es ist eher eine Kritik der Bibel, der Christen und ihrer bürokratisierten Kirchen „von innen“, es ist kein atheistisches Buch. – Kuro Sawai

Leseproben aus der Quelle: scienceblogs.de/zoonpolitikon

Während der charismatische Jesus vom kommenden Reich Gottes predigt und von seinem Glauben, dass dies bald komme, folgt sein Bruder Christus ihm und führt Protokoll. Er möchte Größeres (oder genauer er wird dazu angestiftet, Größeres zu planen). Am Ende bringt er seinen Bruder ans Kreuz und erscheint dessen Anhängern.

Das Buch ist primär weniger eine Religionskritik als vielmehr eine Kritik an der Kirche, der institutionalisierten Religion, die die Wahrheit in Beschlag nimmt und häufig ein Monopol auf Interpretationen beansprucht. Es geht ihm um die Menschen, die meinen, die „Wahrheit aus der Geschichte hervortreten lassen“ zu müssen und die gläubigen Massen dorthin manipulieren, wo sie sie gerne hätten.

Zoonpolitikon: Mich erinnerte das Buch daher auch an die Jefferson Bibel. Das Leben Jesu befreit von Widersprüchen und Übernatürlichem.

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Für die Hardcore-Atheisten unter den Stammlesern des Brightsblog ist obiger Beitrag natürlich eine Zumutung. Selbstverständlich habe ich mich nicht in den „Hintertürchen offen haltenden“ Agnostiker zurückverwandelt, der ich mal war.  Aber in Fragen der Literatur und freien Denkbewegung bin ich ein Anhänger des „Anything goes“, so denn die Qualität stimmt. Eingedenk des Mottos: Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. (Francis Picabia)

Kuro Sawai

1 Comments

  1. Zwei YouTube Videos zum Buch, in denen Pullman selber Stellung bezieht.
    http://www.youtube.com/watch?v=tvSgvy91jao&feature=related – kontroverses Interview im brit. TV (10:24 min)
    http://www.youtube.com/watch?v=HQ3VcbAfd4w Statement Pullmans zum Blasphemie-Vorwurf seitens christl. Fundis

    Im Wortlaut: Pullman himself said on the matter of offence in Oxford recently.
    “Yes, it [the title] was a shocking thing to say, and I knew it was a shocking thing to say. But no-one has the right to live without being shocked. No-one has the right to spend their life without being offended.
    “Nobody has to read this book. Nobody has to pick it up. Nobody has to open it. And if they open it and read it, they don’t have to like it. And if you read it and dislike it, you don’t have to remain silent about it. You can write to me, you can complain about it, you can write to the publisher, you can write to the papers, you can write your own book. You can do all those things, but there your rights stop. No-one has the right to stop me writing this book, no-one has the right to stop it being published, or sold, or bought or read.”

    Und hier noch eine lesenswerte Blog-Rezension samt zahreichen Komentaren (in English):
    http://vulpeslibris.wordpress.com/2010/04/29/the-good-man-jesus-and-the-scoundrel-christ-by-philip-pullman/

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