Kritisches Denken als unverzichtbare Voraussetzung für eine freiheitliche Lebensführung


Martin Bauer | hpd.de

Hermann Josef Schmidt. Foto: ©Evelin Frerk

Schon früh Mitglied in der Humanistischen Union, später im Beirat des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) sowie im Kuratorium der Giordano-Bruno-Stiftung war er oft ganz nah dran, wenn es darum ging, kritisches Denken gegen Dogmen und Autoritätsgläubigkeit durchzusetzen. Der hpd sprach mit ihm über sein Buch, über die Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre und das Recht auf Irrtum.

hpd: „Dann bin ich ja genau so tot wie Sie!“ als Titel einer Autobiographie ist ungewöhnlich. Was hast du dir dabei überlegt?

Hermann Josef Schmidt: Der Titel soll eine zugunsten gesellschaftlicher Manipulation und Ruhigstellung kunstvoll gezüchtete, mittlerweile weit verbreitete Angst ansprechen. Die Angst nämlich, je nach sozialem Feld isoliert, exkommuniziert, ausgestoßen oder gesellschaftlich „vernichtet“, wenigstens aber „mundtot“ gemacht zu werden. Möglichst niemand soll wagen, sich „unbotmäßig“ zu verhalten, indem etwa kritische Fragen gegenüber medial Hochgejubeltem gestellt werden oder Tabuierungen nicht demütig genug aufrecht erhalten werden. Dennoch: Selbst für „tot“ erklärt zu werden, ist nur dann ein ernsthaftes Problem und nicht lediglich ein Zeichen geistiger Hilflosigkeit, wenn andere ängstlich oder einfältig genug sind, eine „Für-tot-Erklärung“ naiv nachzuschwatzen.

Das erklärt noch nicht, wie du auf diesen Titel gekommen bist…

Ich zitiere den erschrockenen Ausruf eines Kollegen. Nachdem ich ihm meine Streitschrift „Wider weitere Entnietzschung Nietzsches“ (2000) zugeschickt hatte, rief er mich an und gratulierte. Als ich ihn fragte, ob er den Band „wie auch immer kritisch“ irgendwo besprechen könne, kam fast wie aus einer Pistole geschossen diese Befürchtung: „Dann bin ich ja genau so tot wie Sie!“

Sie war verständlich, denn nach Erscheinen von „Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche“ (1991-1994), einer mehrbändigen Aufarbeitung von Nietzsches Entwicklung sowie der entsprechenden Texte seiner ersten 20 Jahre, war so mancherlei gegen mich in der damals noch fast durchgängig christlich dominierten Nietzscheinterpretation unternommen worden – natürlich ohne mich direkt damit zu konfrontieren. Ich hatte den Mythos des brav christlichen Kindes Nietzsche angegriffen und zu zeigen vermocht, dass schon das Kind manches von demjenigen gedanklich durchspielte, was für Nietzsches bekanntere Schriften charakteristisch blieb. Schließlich fundiert Nietzsches Christentumskritik seinen philosophischen Ansatz. Derlei Spielverderberei wollte sich nicht jeder gefallen lassen. So empfand ich mich 1993 durch ein Rundschreiben eines renommierten Herausgebers, nichts mehr von mir zu besprechen, und Jahre später durch eine zwar leicht widerlegbare, doch „in der Sache“ ernst zu nehmende Verleumdung abgestraft. Ich habe mich aber nicht entmutigen lassen.

weiterlesen