Die anderen Quellen der Aufklärung



Wie die chinesische Tradition in das europäische Denken des 17. und 18. Jahrhunderts eingegangen ist

Von Henrik JägerNZZ Online

Seit Jahrhunderten wird die Aufklärung, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einem tiefen und umgreifenden Wandel in Europa geführt hat, überwiegend als rein europäische Entwicklung begriffen. Hierbei wird jedoch ausser acht gelassen, dass diese für die Entstehung der Moderne so grundlegende Epoche ihr Entstehen auch der Begegnung mit östlichen Kulturen verdankt. In der weltoffenen Zeit der Frühaufklärung, im 17. und 18. Jahrhundert, war es vor allem die Kultur Chinas, die die Aufmerksamkeit bedeutender Gelehrter auf sich zog. So wurde China von Gottfried Wilhelm Leibniz als ein «Anti-Europa» bezeichnet, als ein Gegenbild zur europäischen Welt, und man brachte diesem höchsten Respekt entgegen und sah in dessen Spiegel die eigenen Fragestellungen und Zukunftsentwürfe in neuem Licht.

Leibniz und Wolff

Möglich geworden war die Entdeckung Chinas durch die Berichte, Briefe und Übersetzungen der missionierenden Jesuiten, die seit dem 16. Jahrhundert (hier ist vor allem der berühmte Matteo Ricci zu nennen) als erste Europäer ein umfassendes Wissen über die chinesische Kultur zugänglich machten. Im Mittelpunkt des Interesses an China standen das konfuzianische Denken und dessen bedeutendste Vertreter, Konfuzius und Menzius (chinesisch Mengzi). In diesem Denken schien ein universales Menschen- und Gesellschaftsbild formuliert zu sein, eine rational begründete Alternative zum christlich-jüdischen Denken: Moralische Entwicklung und Mündigkeit waren somit nicht mehr zwingend an eine bestimmte Religion oder an eine Kirche gebunden, da sie allen Menschen von Natur aus eigen sind. Christian Wolff (1679 bis 1754), der bedeutende Wegbereiter der Aufklärung in Deutschland, entwickelte seine Philosophie in einem Klima der Weltoffenheit und vielfältigen Auseinandersetzung mit der chinesischen Kultur. In seiner Jugend stand er in engem Kontakt mit Leibniz, später wurde seine Lehre als eine Weiterentwicklung des Leibnizschen Gedankenguts empfunden, man sprach vom «Leibniz-Wolffschen System» als der herrschenden Schulphilosophie des frühen 18. Jahrhunderts.

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