Thomas de Maizière: Religion im säkularen Staat


Anlass
Göttinger Vorträge zu Religion und Recht
Datum
07.12.2010
Ort
Göttingen
Redner
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern

Sehr geehrter Herr Professor Heinig,
sehr geehrter Herr Professor Spickhoff,
sehr geehrter Herr Professor Münch,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

welche Rolle kommt der Religion in einem säkularen Staat zu?

Die Antwort ist nicht einfach. Sie ist nicht einfach und sie darf auch nicht einfach sein. Das Verhältnis zwischen Kirche, Staat und dem einzelnen Bürger ist ein in Jahrhunderten gewachsenes dynamisches Gefüge, das sich auch heute noch weiterentwickelt – mit immer schnelleren Schritten. Wir sind Zeugen eines Wandels, den Sie, Herr Professor Heinig, einmal mit den Begriffen „Individualisierung, Säkularisierung und Pluralisierung“ zusammengefasst haben.

Hinzu kommt, dass es große regionale Unterschiede gibt: Schon innerhalb Europas wird die Frage nach der Rolle der Religion im säkularen Staat sehr unterschiedlich beantwortet. Und sogar innerhalb unseres Landes werden Sie, je nachdem wo Sie fragen (West, Ost, Nord, Süd, Großstadt, Land…) sehr unterschiedliche Antworten erhalten.

Die Rolle der Religion im säkularen Staat ist in unserem Land auch keine akademische Frage, die nur einen kleinen Kreis von Kirchenrechtlern interessiert. Es geht vielmehr ums „Eingemachte“, um das, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Es geht aber auch um das, was unsere Gesellschaft auseinandertreiben kann.

Wir alle haben wohl noch gut in Erinnerung, welche Reaktionen die Äußerung unseres Bundespräsidenten Christian Wulff, der Islam sei ein Teil Deutschlands, ausgelöst hat. Auch bei den immer wieder aufflammenden Diskussionen und Rechtsstreitigkeiten über religiöse Symbole – ob Kreuz im Klassenraum, Kopftuch oder die Burka – geht es dem Grunde nach um die Frage, wie wir das Verhältnis zwischen Staat und Religion definieren, welche Bedeutung wir der Religion in unserem säkularen Staat zumessen, ob und welche Grenzen unser Grundgesetz der Ausübung einer Religion setzt.

Zur Beantwortung der Frage, welche Rolle der Religion im säkularen Staat zukommt, müssen wir zunächst einmal über das grundgesetzlich geschützte Prinzip der Religionsfreiheit sprechen. Dies ist sozusagen unser gedanklicher Ausgangspunkt.

Es gehört heute zum Selbstverständnis moderner Demokratien, dass Religion und Staat zwei Bereiche sind, die getrennt voneinander und mit klar bestimmten und abgrenzbaren Einflusssphären ihre Aufgaben haben.

Der Staat des Grundgesetzes ist gegenüber der Religion neutral – aber zugleich der Religion zugewandt, auch offen. Er gewährt den Religionen freien privaten und öffentlichen Entfaltungsraum. Das unterscheidet ihn im Übrigen fundamental vom distanzierten laizistischen Staat, der die Zurückdrängung der Religionen aus dem öffentlichen Leben anstrebt.

Diese Herausbildung des säkularen Staates mit seiner Trennung von Religion und Politik, von Kirche und Staat ist eine zentrale Errungenschaft der Moderne. In seinem Vortrag über Preußen und den Protestantismus beschrieb der Göttinger Gelehrte Rudolf von Thadden den Beginn dieses Prozesses sehr anschaulich:

– Ich zitiere –

„“Wer wusste schon im alten kleinstädtischen Berlin an der Spree, dass eine religionspolitische Entscheidung des brandenburgischen Kurfürsten die Türen zur großen Welt Westeuropas öffnete und den Weg für einen der bedeutsamsten Vorgänge der brandenburgisch-preußischen Geschichte bereitete: für die Aufnahme der französischen Glaubensflüchtlinge in der Folge der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685. Während das Land noch unter den Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges litt, vollzog der Große Kurfürst mit der Aufnahme der Hugenotten einen Schritt, der sowohl kirchenpolitisch als auch staatspolitisch eine Bedeutung von außerordentlichem Rang hatte. Kirchenpolitisch war nun der Bann des Konfessionalismus gebrochen und ein Zeichen religiöser Toleranz gesetzt, das europaweit Aufsehen erregte. Staatspolitisch wurde ein Prozess der Modernisierung vorangetrieben, der dem Land langfristig helfen sollte, aus seiner wirtschaftlichen und sozialen Rückständigkeit herauszukommen. Die Letzten sollten die Ersten sein.““

Dem Jahrhunderte dauernden Prozess der Säkularisierung lagen natürlich zahlreiche religions- und staatswissenschaftliche Entwicklungen – vor allem aber auch Entwicklungen in der Philosophie – zu Grunde, die sich gegenseitig bedingten. Begründete der Protestantismus vom Ansatz die Weltlichkeit des Staates, so beförderte die europäische Aufklärung eine Revolution des Denkens, die Glauben mit der Vernunft versöhnte.

Die Göttinger Universität hat übrigens insbesondere in ihrer theologischen und juristischen Fakultät diese Traditionen immer gepflegt, weshalb sie auch als nüchtern gilt und Lichtenberg zu manchen Aphorismen verleitet hat (Beispiel: „Ist es nicht sonderbar, dass die Menschen so gerne für die Religion fechten, und so ungerne nach ihren Vorschriften leben?“).

Von Thadden erklärt, dass beides, Aufklärung und Protestantismus, die Zusammenführung unterschiedlicher Erkenntnisprägungen erleichterte und einer neuen Rechtskultur zum Durchbruch verhalf, die gewissermaßen den ständischen Bindungen der Kirchen den Boden entzog und der bürgerlichen Gesellschaft den Weg bereitete.

In Europa erfolgte sukzessiv eine Ablösung des Staates und der Rechtsordnung von kirchlichen und religiösen Vorgaben. Im sogenannten christlichen Mittelalter hatte noch die Auffassung vorgeherrscht, die geistliche Macht sei der weltlichen Macht überlegen; der Papst besitze Vorrang vor dem Kaiser; das geistliche Recht stehe über dem weltlichen Recht. Spätestens seit der frühen Neuzeit, nämlich seit der protestantischen Reformation und den Konfessionskriegen, darunter zähle ich hier auch einmal den Dreißigjährigen Krieg, war diese Konzeption des Verhältnisses von Staat und Religion, Staat und Kirche unhaltbar geworden. Im 16. Jahrhundert hatte sich in Mitteleuropa neben dem katholischen das protestantische Christentum ausgeprägt, das seinerseits von vornherein binnenplural ist (evangelisch-lutherisch, evangelisch-reformiert).

Im 17. Jahrhundert standen die großen christlichen Konfessionen endgültig nicht mehr nur nebeneinander, sondern gegeneinander. Durch die Konfessionskriege wurde deutlich, dass sich der Friede und die äußere Ordnung nicht mehr auf eine Religion oder eine Kirche gründen ließen. Die christliche Kirche war gespalten, und die Glaubensspaltung führte zu blutigen kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Religionen auch innewohnende Tendenzen zu Unbarmherzigkeit und Gewalt brach sich Bahn. Angesichts dessen wurde es zur Aufgabe der weltlichen Herrschaft, das Recht und den äußeren Frieden zu sichern.

Der Staat emanzipierte sich von der Kirche und wurde zum entsakralisierten, säkularen Staat. Ihm wuchs die Verantwortung dafür zu, dass jeder Bürger nach eigener, individueller Wahl einer Religion, Konfession oder Weltanschauung folgen kann. Begrifflich fand dies seit dem 19. Jahrhundert darin seinen Niederschlag, dass die Staatverfassungen die Gewissens- und Religions- sowie dann auch die Weltanschauungsfreiheit garantierten.

Und trotz aller Trennungs- und Scheidungsprozesse bleiben auch im säkularen Staat Religion und Politik aufeinander verwiesen. Der Trennung von Staat und Religion liegt das Verständnis einer wechselseitigen Begrenzung von staatlicher und religiöser Autorität zugrunde.

Wir Europäer haben in vielen Jahrhunderten schmerzvoll gelernt, dass für Toleranz nur wenig Platz ist, wenn mit dem religiösen ein politischer Wahrheitsanspruch einhergeht.
Deshalb achtet unser Staat die spirituelle Autorität der Religionen, behauptet zugleich aber seine Autorität zur Regelung des Zusammenlebens. Das Grundgesetz gewährt die Freiheit der Glaubenden und grenzt sie zugleich auch ein. Die Religionsfreiheit entbindet niemanden von der Treue zur Verfassung.

Diese wechselseitige Begrenzung staatlicher und religiöser Autorität hat in den letzten Jahrhunderten religiös und weltanschaulich neutrale staatliche Institutionen geschaffen. Und gerade diese Neutralität ist heute unabdingbar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserer religiös pluralen Welt. Sie schafft einen Rahmen, in dem Menschen verschiedenen Glaubens einträchtig miteinander leben können, ohne dass sie religiöse Fremdbestimmung fürchten müssten. Das ist gerade dann wichtig, wenn eine Gesellschaft durch Zuwanderung religiös vielfältiger wird.

Das Verhältnis zwischen Staat und Religion hat sich über Jahrhunderte entwickelt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben – was die Religionen angeht – im Wesentlichen die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung übernommen.

Nach den Schrecken der Nazi-Diktatur besann man sich gerade auch auf das christliche Wertefundament, um eine – der Würde des Menschen verpflichtete – Ordnung zu errichten (Präambel).

Und auch heute steckt viel Wahrheit in dem viel diskutierten und noch viel öfter zitierten Satz von Ernst Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Nach Böckenförde ist dies „das große Wagnis, dass der Staat um der Freiheit Willen eingegangen ist“.

Kritiker des Böckenförde-Diktums wenden sich meist nicht gegen dessen Grundaussage, sondern vielmehr gegen die Ansicht, dass als Quelle eines wertbestimmten Verhaltens alleine die (christliche) Religion taugt. Dahinter stehen – positiv formuliert – die Frage nach den Auswirkungen einer größeren religiösen Pluralität und die grundsätzliche Frage, ob der „Kitt“, der unsere Gesellschaft zusammenhält, nicht auch außerreligiös begründbar sei, vielleicht durch so etwas wie Verfassungspatriotismus.

Fest steht: Der weltanschaulich – und das heißt eben auch religiös – neutrale Staat bekennt sich dazu, über die Quellen eines ihn tragenden wertbestimmten Verhaltens nicht zu verfügen.

Dort, wo der Staat selbst zur monopolistisch auftretenden moralischen Instanz erhoben wird, verschwindet die Freiheit. Auch das ist eine bittere Lehre aus der europäischen Geschichte.

Die Demokratie bedarf zu ihrem Funktionieren einer Zivilgesellschaft, die die Freiheit verantwortlich nutzt. Die Demokratie bedarf – um es mit einem altmodischen Wort zu sagen – der Bürgertugend. Der Staat muss darauf vertrauen, dass sich das verantwortliche Verhalten seiner Bürger aus anderen Quellen speist. Und andere Quellen – das sind nun einmal vor allem Religionen und Weltanschauungen.

Was das Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland betrifft, enthält das Grundgesetz daher bewusst eine Ordnung, in welcher die Religionsfreiheit garantiert und Staat und Religion zwar voneinander getrennt sind, in der aber Religion nicht aus der Öffentlichkeit in das Private abgedrängt wird.
Religion und Weltanschauungen sollen gerade im öffentlichen Raum präsent sein und sich artikulieren. Weder eine französisch geprägte distanzierte laicité, in der die Religion vollständig auf das Private beschränkt ist, noch eine Staatskirche entspricht dem Verhältnis von Staat und Religion, wie es unser Grundgesetz vorsieht. Vielmehr ist es ein Modell, das zugleich auf grundsätzlicher Trennung und auf Kooperation beruht. Damit wird auch deutlich, dass religiöse Gemeinschaften in Deutschland weit davon entfernt sind, „Hilfstruppen des Staates“ zu sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Staat – auch angesichts der Finanzierungsstrukturen – nicht von den Religionsgemeinschaften erwarten kann, dass sie im Rahmen der Kooperation ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten.

Wie sieht es heute aus? Welche Rolle kommt den Religionen im heutigen modernen Staat zu?

Meine Damen und Herren,

der Berliner Historiker Paul Nolte vertritt in seinem Buch „Religion und Bürgergesellschaft“ die These, dass eine aufgeklärte Bürgergesellschaft die Religion braucht. Nur so entstehe eine Gesellschaft, in der ein freiwillig und engagiert öffentliches Leben gestaltet werden könne. So schreibt Nolte:

– Ich zitiere –

„“Wir erkennen, seitdem in den frühen 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts der Club of Rome die Grenzen des Wachstums beschrieben hat, auch die Grenzen des menschlichen Handelns. Wir erkennen, dass der Mensch nicht alles steuern kann, dass man an Grenzen stößt und in tiefe ethische Konflikte der Machbarkeit gerät: denken wir an die großen naturwissenschaftlichen und ethischen Debatten über medizinische Machbarkeit, Herstellbarkeit oder auch Beendbarkeit des Lebens. All’ das sind Dinge, die Fragen aufgeworfen haben, die wir in diesem Horizont der menschlichen Machbarkeit nicht so leicht beantworten können. Ich glaube, daraus ist so etwas wie ein neuer Religionsbedarf auch der westlichen Gesellschaften erwachsen.““

Ob das neu ist, lasse ich einmal dahin gestellt. Aber „Wir haben“, so legt Nolte weiter dar, „gelernt, dass wir stärker als Bürger und Bürgerinnen gefragt sind, dass unsere Netzwerke, also das, was wir selber tun als Bürgerinnen und Bürger, auch wichtig ist, und dass wir vom Staat nicht alles erwarten können.“

Man kann, das ist immer wieder meine Beobachtung, feststellen, dass religiöse Netzwerke, das Netzwerk der Laien in den Kirchen und einzelnen konfessionellen Gemeinden zum Beispiel, mithin das religiös-kirchliche Netzwerk in einem ganz weiten Sinne, eine der beständigsten Ressourcen des bürgerschaftlichen Miteinanders geblieben sind. Religionen sind wertvolle Ressourcen für unsere Bürgergesellschaft: So haben Untersuchungen gezeigt, dass gerade gläubige Menschen besonders stark ehrenamtlich engagiert sind.

Die Bedeutung der Religion für moderne Gesellschaften liegt aber auch darin, dass sie einseitigen Ansprüchen von Markt und Staat etwas entgegensetzen. Beispiele sind etwa der Widerspruch gegen eine zu weitgehende Aufhebung der Sonntagsruhe durch neue Ladenschlussgesetze oder auch gegen die Abschaffung des Religionsunterrichts (oder etwas allgemeinere Beispiele: die Diskussion über die PID, teilweise christlich geprägte Anti-Atom-Bewegungen oder: christlicher Widerstand in der DDR). Das Dissens- und Protestpotenzial der Religion kann die öffentliche Diskussion aktivieren und Kräfte freisetzen, um Positionen zu vertreten, die quer zum Zeitgeist liegen.

Die Religionen und die Kirchen müssen sich dabei immer wieder behaupten, ihr Alleinstellungsmerkmal, also ihren sakralen Kern verteidigen und sich gleichzeitig in den Pluralismus der Bürgergesellschaft hineinbegeben. Das Problem des Spannungsverhältnisses zwischen „Kern“ und „Öffnung“ teilen sie im Übrigen auch mit den Volksparteien.

Protestpotenzial, Einspruch gegen Anmaßungen von Wirtschaft und Staat – das ist die eine Seite. Es gibt aber noch eine andere Seite: Sie besteht darin, dass religiös motivierte Gemeinschaften und Individuen – aber auch die Kirchen selbst – Aufgaben übernehmen, für die der Staat nicht einstehen kann.

Der Staat weiß um diese bürgergesellschaftlichen Effekte und fördert sie um seiner selbst und um der Gesellschaft willen: Der Staat erkennt die Grenzen seiner Macht und seiner Handlungsfähigkeit. Wenn Eigeninitiative in einer Jugendgruppe, einer psychiatrischen Betreuung, im Kirchenchor oder beim Adventsbasar im Gemeindesaal wichtige Arbeit leistet, die der Staat nicht organisieren kann, dann muss dies dem Staat aber wichtig sein. Der Staat muss erkennen, dass die Gesellschaft – wie sie das Grundgesetz versteht – nur so existieren und sich fortentwickeln kann. Deshalb ist es Teil der Bundesrepublik Deutschland, ein „religionsfreundlicher Staat“ zu sein.

Dem Religiösen kommt auch eine wesentliche Rolle zu, wenn es darum geht, unsere verfassungsmäßige Ordnung mit Leben zu erfüllen. Eine Ordnung der Freiheit setzt voraus, dass ihre Bürger diese Freiheit verantwortlich wahrnehmen und ausgestalten. Dafür bedarf es jedoch grundlegender ethischer Werte und Orientierungen. Verantwortung kommt auch aus der Erkenntnis, dass die eigene Freiheit Grenzen hat. Der Glaube an etwas Höheres, Unverfügbares ist nach meiner persönlichen Erfahrung das beste Mittel gegen die menschliche Neigung zum Übermaß.

Meine Damen und Herren,

die wohl aktuellste Herausforderung des Staatskirchenrechts stellt der Umgang mit dem Islam dar.

So wird in der öffentlichen Diskussion häufig gefragt, ob das deutsche Religionsver¬fassungsrecht mit seinen bisher im Wesentlichen auf das Verhältnis zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen zugeschnittenen Regelungen überhaupt auf den Islam passt. Es wird gefragt, ob sich islamische Gemeinschaften in das System des deutschen Staatskirchenrechts einbeziehen lassen.

Bei dem Thema „Islam und deutsches Religionsverfassungsrecht“ ist stets die Frage gemeint, wie wir die religiöse Betätigung der in unserem Land lebenden rund 4 Millionen Menschen muslimischen Glaubens im Rahmen unserer verfassungsmäßigen Ordnung gewährleisten können.
Dabei betone ich eines vorweg:

Die Vorschriften der Verfassung, die sich mit dem institutionellen Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften befassen, sind zwar vor dem Hintergrund der christlich-kirchlichen Organisationsformen entstanden. Die Gewährleistungen der kollektiven Religionsfreiheit – und damit auch die Bestimmungen zum Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften – gelten jedoch für alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen: Alle haben dieselben Rechte und Pflichten. Der Staat hat gegenüber allen religiösen Gemeinschaften offen und neutral zu sein.

Die in der öffentlichen Diskussion immer wieder erhobene Forderung nach einer Anerkennung des Islam und seiner Gleichstellung mit den christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinschaft geht von einer falschen Grundannahme aus, dass der Islam einer rechtlichen Gleichstellung mit anderen Religionen bedürfte. Das ist natürlich nicht so, denn es steht selbstverständlich nicht in Frage, dass es sich bei dem Islam um eine anerkannte Religion handelt.

Bei den jüngeren Diskussionen geht es vielmehr um eine andere Frage. Kernpunkt ist die Frage, wie eine Religionsgemeinschaft organisiert sein muss, damit sie als Kooperationspartner des Staates handeln kann. In diesem Sinne ist auch „das Christentum“ keine Religionsgemeinschaft im rechtlichen Sinne, sondern die Kirchen als Organisationen sind die Religionsgemeinschaften. Dies wird bei der öffentlichen Diskussion leider immer wieder übersehen.
Der weltanschaulich neutrale Staat ist auf ein Zusammenwirken mit Religionsgemeinschaften angewiesen. Deren Wesensmerkmal besteht darin, dass es sich um einen Verband natürlicher Personen handelt. Er dient der Pflege eines gemeinsamen religiösen Bekenntnisses, und zwar mit dem Ziel einer umfassenden Erfüllung der durch das religiöse Bekenntnis gestellten Aufgaben. Ein religiöser Verein, der sich nur mit Teilaspekten des religiösen Lebens befasst oder vornehmlich andere Ziele verfolgt, kann diesen Anforderungen nicht gerecht werden.

Religionsgemeinschaften unterscheiden sich damit von den im Grundgesetz bzw. den dort in Bezug genommenen Normen der Weimarer Reichsverfassung auch erwähnten religiösen Vereinen, die sich nur Teilaspekten des religiösen Lebens widmen.

In der Deutschen Islam Konferenz ging es im Rahmen ihrer ersten Phase um Fragen der rechtlichen Einordnung von Vereinigungen, die als möglicher Kooperationspartner des Staates in dem im Grundgesetz geregelten Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften handeln können.

Bezogen auf den Islam ist nach deutschem Verfassungsverständnis etwa die Gesamtheit der Muslime auf der Erde, die Umma, im Rechtssinne ebenso wenig eine Religionsgemeinschaft wie etwa die Christenheit. Es kommt vielmehr darauf an, ob die in Deutschland bestehenden Personenvereinigungen bzw. Verbände als Religionsgemein¬schaften im Sinne der einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen anzusehen sind oder nicht.

Für die tatsächliche Prüfung sind in erster Linie die Länder zuständig. Bei den Dachverbandsorganisationen hängt es vor allem an der fehlenden mitgliedschaftlichen Struktur und der umfassenden Wahrnehmung religiöser Aufgaben. Das Beispiel der Alevitischen Gemeinde Deutschlands belegt aber, dass auch neu hinzugekommene religiöse Organisationen diesen Anforderungen genügen können.

Ich bin optimistisch, dass wir mit dem bewährten Staatskirchenrecht auch die Integration des Islam in unsere Rechtsordnung gewährleisten können. In dieser Einschätzung sehe ich mich durch die Beschlüsse des 68. Deutschen Juristentags vom Oktober dieses Jahres bestätigt.
Auf diesem Juristentag bestand – trotz durchaus kontroverser Standpunkte – insgesamt ein breiter Konsens darüber, dass sich das verfassungsrechtliche Konzept einer wohlwollenden Neutralität des Staates im Umgang mit Religionsgemeinschaften bewährt hat und dass der Staat den Dialog unter den verschiedenen Religionen anregen und unterstützen solle.

Auch die Aussagen zum Verhältnis zwischen Staatsferne und Kooperation mit dem gleichzeitigen Hinweis, dass die wohlwollende Neutralität endet, wenn sich ein Grundrechtsträger aktiv gegen die rechtsstaatliche Ordnung wendet, geben eine gute Richtschnur.

Der Beschluss des Juristentags, dass der Staat angesichts der verfassungsrechtlichen Garantie des schulischen Religionsunterrichts darauf hinwirken solle, islamisch-theologische Studiengänge zur Ausbildung islamischer Religionslehrer einzurichten, bestätigt noch einmal die Haltung der Bundesregierung.

Eine an deutschen Hochschulen erworbene islamisch-theologische Fundierung wird allerdings nicht nur für den Religionsunterricht angestrebt. Sie ist auch sicherlich wünschenswert für die Tätigkeit von Imamen und ganz generell notwendig für die Herausbildung einer akademisch fundierten, deutschsprachigen islamischen Theologie und damit auch für die Verbesserung des Dialogs. Die Einführung islamisch-theologischer Lehrangebote an deutschen Hochschulen ist damit ein wichtiger Baustein zur weiteren Integration. Das im Mai 2010 verabschiedete Arbeitsprogramm der Deutschen Islam Konferenz sieht ausdrücklich vor, insbesondere die Etablierung islamisch-theologischer Angebote an öffentlichen Hochschulen begleitend zu unterstützen.
Umstritten war auf dem Juristentag allerdings, ob den islamischen Glaubensgemeinschaften, denen zum Teil bereits die organisatorischen Voraussetzungen für den Körperschaftsstatus, manchmal sogar zum vereinsrechtlichen Zusammenschluss fehlen, eine angemessene spezielle Organisationsform mit vorteilhaften Rechtsfolgen für den Religionszusammenschluss einfachgesetzlich bereitgestellt werden sollte, wie es in einem Gutachten für den Juristentag vorgeschlagen wurde.
Letztlich hat sich aber doch eine Mehrheit der Juristen gegen eine solche spezielle Organisationsform ausgesprochen. In der Debatte ist deutlich geworden, dass der Verfassungsstaat auf bestimmten Mindestanforderungen an eine Glaubensgemeinschaft bestehen muss: Eine Rechtsordnung, in deren Mittelpunkt jeder einzelne Mensch steht und die auf dem Prinzip personeller und gleichbemessener Freiheit gründet, kann auf bestimmte Merkmale der Identifizierbarkeit von Mitgliedschaft nicht verzichten.

Die Deutsche Islam Konferenz unterstützt das Ziel der Etablierung einer institutionalisierten Kooperation zwischen Staat und Muslimen und ihren Organisationen auf der Grundlage des geltenden Religionsverfassungsrechts.
Aber wie kann das gehen? Bis zu einer Lösung arbeiten wir mit Übergangslösungen. Diese auch vom Deutschen Juristentag grundsätzlich unterstützten Übergangslösungen werfen noch zahlreiche Fragen hinsichtlich ihrer konkreten Ausgestaltung auf: Ich denke hier beispielsweise an die konkrete Zusammensetzung der Beiräte für islamische Studien oder die Zwischenschritte auf dem Weg zu einem vollwertigen Religionsunterricht nach Artikel 7 Abs. 3 GG. Dies werden wir im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz und auf der staatlichen Seite vor allem mit den hierfür in erster Linie zuständigen Ländern weiter erörtern.

Ich kann mir vorstellen, dass wir die Zwischenzeit mit dem Rechtstypus eines Vertrages „sui generis“ überbrücken, statt einer ungeklärten Anerkennung einer Religionsgemeinschaft könnten wir z. B. einen „Vertrag über die Einführung eines Religionsunterrichts“ machen, mit Mitwirkungsrechten organisierter islamischer Organisationen. Ich lade zu juristischer Phantasie ein.
Dies sind Aufgaben, die sich uns jetzt drängend stellen werden. Es wäre vermessen (und geschichtsvergessen), die grundlegende Etablierung einer institutionalisierten Kooperation zwischen Staat und Muslimen von heute auf morgen zu verlangen. Denn – und hier möchte ich an den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurückkehren – auch das deutsche Staatskirchenrecht hat sich in einem Jahrhunderte dauernden Prozess entwickelt.
Der säkulare Staat mit seiner aufgeklärten Werteordnung bietet uns heute einen bewährten Rahmen für unser friedliches Zusammenleben in gegenseitiger Toleranz. Das geltende Religionsrecht mit seiner übergreifend-offenen Neutralität ist das Herz (und der harte Kern) dieser freiheitlichen Ordnung. Es gibt uns Orientierung und ist unverzichtbarer Maßstab – gerade auch für die Beantwortung künftiger Fragestellungen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Es gilt das gesprochene Wort.)