Sündenbock Peter Singer?


Peter Singer. Bild: Tony Phillips – ICEL 2014
Peter Singer erhielt vor wenigen Tagen einen Preis für seine Beiträge zur Tierethik. Nach einem Interview über die Konsequenzen seiner Ethik zog ein Sprecher seine Lobrede zurück und wurde ein Vortrag des Moralphilosophen in Köln abgesagt. Singers Ansichten sind jedoch schon alt und in weiten Teilen gesellschaftliche Praxis. Die (neue) Welle der Entrüstung ist daher nicht nachvollziehbar und lenkt von den gesellschaftlichen Ursachen von Entscheidungen gegen das Leben ab.


Von Stephan Schleim|TELEPOLIS

Der seit Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum umstrittene Moralphilosoph Peter Singer hat am 26. Mai einen nach ihm benannten Preis für Tierethik erhalten. Sein kurz vor der Verleihung erschienenes Interview in der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) löste einen Sturm der Entrüstung aus (Leben und leben lassen).

Folgenschweres Interview

Schließlich zog sogar der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon seine Lobrede für die Preisverleihung zurück. Dabei hat er dem Moralphilosophen erst 2011 in Frankfurt am Main einen ähnlichen Preis überreicht (Wie man in Deutschland nicht mehr mundtot gemacht wird). Der Vorstandssprecher begründete dies damit, Singers heutige Ansichten widersprächen einem „humanistisch-emanzipatorischen Politikverständnis“ und seiner früheren Position.

Inzwischen hat auch die Leitung des Philosophie-Festivals phil.COLOGNE ein Veranstaltung mit Singer abgesagt. Sie begründete dies wie Schmidt-Salomon mit einem Verweis auf ihr „humanistisch-emanzipatorisches Selbstverständnis“. Dieses Gut wiege schwerer als die freie Rede. Deshalb schien der Leitung eine sachorientierte Diskussion zum Thema Tierethik, zu dem Singer vortragen sollte, nicht mehr möglich.

Nach einer einleitenden Bemerkung zum Utilitarismus will ich nachweisen, dass Singer schlicht seine alte, seit Jahrzehnten bekannte Sichtweise vertritt (Schonung der Tiere, Euthanasie für schwer behinderte Kinder?). Außerdem werden die Praktiken des Schwangerschaftsabbruchs, deren Unterstützung man dem Moralphilosophen vorwirft, längst umgesetzt (s.a.: Sollte „Abtreibung“, also Kindstötung, auch nach der Geburt noch möglich sein?).

Sie sind meiner Einschätzung nach mindestens seit der Änderung des Strafgesetzbuchs vom 1. Oktober 1995 in Deutschland straffrei – und zwar über die gesamte Dauer der Schwangerschaft hinweg bis kurz vor Geburt(!) des Kindes. Anstatt dies Singer vorzuwerfen, sollte man besser auf eine Gesellschaft hinwirken, in der Eltern in ihrer Entscheidung für oder gegen ein Kind wirklich frei sind.

Eine Vorbemerkung zum Utilitarismus

Bedeutende Vertreter des klassischen Utilitarismus im 18. und 19. Jahrhundert waren Jeremy Bentham (1748-1832) und dessen Student John Stuart Mill (1806-1873). Der Name dieser moralphilosophischen Denkschule ist vom englischen utility (lat. utilitas), das heißt Nutzen abgeleitet. Nutzen kann dabei als Glück, Vermeidung von Leid oder auch ökonomische Wohlfahrt verstanden werden. Auf Bentham geht die berühmte Formulierung zurück, die Nutzen als das größte Glück der größten Zahl (man ergänze: der betroffenen Lebewesen) versteht.

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